Die Migros ist der größte Binnenkonzern der Schweiz. Sie beschäftigt mit fast 80.000 Personen beinahe ein volles Prozent der Schweizer Bevölkerung und hat mit einem Anteil von über 20 Prozent eine führende Position im Lebensmitteleinzelhandel. Gleichzeitig machen die genossenschaftliche Struktur, das Engagement in der Kulturförderung, die publizistische Tätigkeit oder der Mythos um den Firmengründer Gottlieb Duttweiler (1888-1962) den “orangen Riesen” zu mehr als nur einem gewöhnlichen Einzelhandelskonzern. Aus Anlaß des 75jährigen Jubiläums hat die Migros im Jahr 2000 ein Forscherteam der Universität Zürich mit der Aufarbeitung der Firmengeschichte betraut.
“Der Migros-Kosmos” erforscht die Entwicklung des Unternehmens aus einer breiten, wirtschafts- und geisteswissenschaftlichen Perspektive. In zahlreichen, teilweise essayistischen Beiträgen wird ein facettenreiches Bild der Migros-Geschichte geboten. 18 Autoren haben an dem großformatigen, 300seitigen Werk mitgearbeitet. Thomas Welskopp bemerkt in einer sehr guten Gesamtanalyse am Anfang des Bandes, daß in der bisherigen Geschichtsschreibung und im Selbstverständnis des Unternehmens die Migros gerne als einzigartiges Schweizer Phänomen betrachtet wurde. Den Autoren ist zu Gute zu halten, daß sie sich diesem Bild nicht von vornherein anschließen, sondern die Geschichte kritisch aufarbeiten. Dies führt zwar nicht zu einer vollständigen Dekonstruktion des sorgsam gepflegten Unternehmensmythos eines beständigen, innovativen und im Dienst der Allgemeinheit handelnden Konzerns, wohl aber zu einer Relativierung.
Der charismatische “Vollblutkaufmann” Gottlieb Duttweiler rief 1925 mit einem Startkapital von 100000 Franken die Migros als Aktiengesellschaft ins Leben. Die Ware wurde ohne Zwischenhandel zu Weltmarkt- und Fabrikpreisen eingekauft und vorerst aus fahrenden Verkaufswagen direkt dem Kunden zu günstigen Preisen angeboten. 1926 eröffnete Duttweiler seine ersten stationären Läden. Die Ideen der Discountpolitik und der Selbstbedienung, die damals in Europa noch kaum Fuß gefaßt hatten, übernahm Duttweiler von Vorbildern aus dem amerikanischen Lebensmittelmarkt. Die Geschäftsphilosophie der Migros verknüpfte von Beginn an kommerzielle Kalküle mit sozialethischen und gesellschaftspolitischen Elementen. Ein Beispiel hierfür ist das Konzept der “gesunden Ernährung im Dienst der Volksgemeinschaft”, dem sich Duttweiler zusammen mit dem Schweizer Hygieniker Willi von Gozenbach annahm. Zur “Förderung der Volksgesundheit” sollte der Nachfrage nach einer “abwechslungsreichen, ausgewogenen und preislich erschwinglichen Ernährung” in den Migrosfilialen Rechnung getragen werden. Wie Mitautorin Livia Knüsel vermerkt, war auch diese Anstrengung durchaus mit wirtschaftlichen Interessen verbunden, sollte sich die Migros doch gerade dadurch von anderen Anbietern abheben.
Der Aufstieg zum größten Einzelhändler der Schweiz war alles andere als einfach. In den 1920er und 1930er Jahren wehrten sich die traditionellen Lebensmittelhändler vehement gegen den neuen Konkurrenten. Aufgrund der Lieferboykotte entschloß sich Duttweiler, gewisse Produkte selbst herzustellen und setzte damit die Grundlage für die bis heute erfolgreiche Eigenproduktion des Unternehmens. Spannend aufgearbeitet ist die Episode des gescheiterten Expansionsversuchs nach Deutschland. 1932 entschloß sich der Firmengründer in Berlin eine Filiale zu errichten. Der Erfolg der Migros Berlin schien vorerst zum Greifen nah. Der Widerstand der ansässigen Einzelhändler und Hersteller von Markenartikeln war jedoch enorm. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten fanden diese Kreise in der öffentlichen Verwaltung zusätzliches Gehör. Im März 1933 geriet das Unternehmen auf die Listen der “Frühjahrsboykotte” der NSDAP und wurde gar als “Judenfirma” angeprangert. Die Migros Berlin mußte bereits im Dezember 1933 die Liquidation bekannt geben.
In der Schweiz begann Duttweiler 1941 damit, die private Migros-Aktiengesellschaft in eine Genossenschaft umzuwandeln. In einem Stiftungsakt vermachte er eingetragenen Kunden und Mitarbeitern Anteilscheine, und verteilte das Genossenschaftskapital auf rund 75.000 Mitglieder. Er selbst ließ sich zum Präsidenten der Verwaltungsdelegation wählen, ein Amt, das er bis zu seinem Tod 1966 bekleidete. Über die Gründe für dieses unter unternehmenshistorischen Gesichtspunkten spektakuläre Ereignis ist viel geschrieben worden. Duttweiler war einerseits bestrebt die “Ausgleichssteuer”, welche der Bundesrat 1939 zu Gunsten der Arbeitsbeschaffung und Landesverteidigung ins Leben gerufen hatte, zu umgehen, da diese nur private Unternehmen, nicht aber Genossenschaften betraf. Zudem wollte er das 1933 gegen die Migros erlassene “Filialverbot”, das Verbot weitere Filialen zu errichten, unterlaufen. Möglicherweise beabsichtigte er durch die Gründung der Genossenschaft gar einer Enteignung im Falle einer deutschen Invasion der Schweiz zuvorzukommen. Abgesehen von diesen wirtschaftlichen Überlegungen sind die Autoren jedoch der Ansicht, daß es Duttweiler mit der Gemeinwohlorientierung der Migros ernst war. So habe er mit diesem Schritt bewiesen, daß ihm der Fortbestand des Unternehmens wichtiger war als der persönliche Profit. Die Autoren betonen zudem das revolutionäre Potential der Unternehmensstrategie Duttweilers. Die Migros habe alte Strukturen angegriffen und zerstört, neue Verhältnisse geschaffen und mehr als jedes andere Unternehmen in der Schweiz zur Revolutionierung des Einzelhandels beigetragen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte die Migros eine atemberaubende Expansion und trug wesentlich dazu bei, daß die Schweiz, deren Lebensmittelhandel noch zur Gründungszeit des Unternehmens extrem traditionell strukturiert war, bis in die 1960er Jahre in Sachen Selbstbedienung in Europa einen Spitzenplatz einnahm. Aus der Nische des Lebensmittelhandels stieß der Konzern in immer neue Märkte vor und dehnte das Angebot auf beinahe alle Bereiche des Alltagslebens aus. Durch die Produktion von Eigenmarken, die Markenartikel imitierten und häufig auch persiflierten, habe die Migros – so das Urteil der Autoren – eine “vollkommene Parallelwelt geschaffen, die in der Differenzierung von Markenartikeln den Kapitalismus ein wenig karikierte, um trotzdem kräftig an ihm mitzuverdienen”.
Mit “Der Migros-Kosmos” liegt ein sehr schön illustriertes und mit zahlreichem, auch seltenem, Bildmaterial bereichertes Werk vor. Die Herausgeber betonen, sie hofften, daß nicht nur ein “schmucker, sondern ein interessanter Band” geglückt sei. Dies ist ihnen zweifellos gelungen.
Rezension: Gerber, Beat