Akzeptanz und Gleichberechtigung für Personen, die gleichgeschlechtlich lieben, sind keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Ein Blick auf die jüngere Geschichte zeigt, wie fundamental sich die Lebenssituation von Schwulen und Lesben seit dem Zweiten Weltkrieg geändert hat, aber auch, welche Ambivalenzen fortdauern.
Der am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz lehrende Historiker Benno Gammerl zeichnet diese Entwicklung nach und wendet sich im Rahmen einer Emotionsgeschichte den Gefühls- und Alltagswelten schwuler und lesbischer Menschen seit den 1950er Jahren in Westdeutschland zu. Unterteilt ist die Studie in chronologische Abschnitte, zunächst die Nachkriegszeit, in der Homosexualität kriminalisiert oder pathologisiert wurde (aber dennoch Handlungsräume existierten), über den Aufbruch der 1970er bis zu den 1980er Jahren zwischen Aids-Angst und gesellschaftlicher Akzeptanz. Auf der Grundlage von einschlägigen Publikationen und 32 Interviews mit Betroffenen differenziert der Autor die großen Entwicklungs-linien: Es gebe keine einfache Erfolgsgeschichte „von Angst zu Stolz“. Stattdessen schildert Gammerl eine beträchtliche Bandbreite von Lebensentwürfen und Gefühlslagen – von Selbstbewusstsein und politischem Kampf über gelungene Partnerschaften bis zur bitteren Erfahrung sozialer Isolation.
Rezension: Dr. Heike Talkenberger
Benno Gammerl
Anders fühlen
Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik
Hanser Verlag, München 2021, 415 Seiten, € 25,–