Die zeithistorische Terrorismus-Forschung, das Medieninteresse und die öffentliche Aufmerksamkeit richten sich seit langem hauptsächlich auf die Geschichte der „Roten Armee Fraktion“. Dabei ist in Vergessenheit geraten, dass nicht der „Deutsche Herbst“ 1977, sondern das Jahr 1980, gemessen an der Zahl der Opfer, den Höhepunkt terroristischer Aktivitäten in der Bundesrepublik darstellt. Der Historiker Uffa Jensen, stellvertretender Leiter des Berliner „Zentrums für Antisemitismusforschung“, hat nun ein Buch vorgelegt, welches das Potential hat, dieses Jahr dem Vergessen zu entreißen. Denn seit der Aufdeckung der Mordtaten des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) betreten immer mehr Historiker die Archive, um die Geschichte rechtsterroristischer Gewalt nach 1945 zu rekonstruieren.
Jensen fokussiert in seiner Untersuchung den antisemitisch motivierten Doppelmord an Shlomo Lewin, dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Nürnbergs, und seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke am 19. Dezember 1980. Im selben Jahr fanden Brandanschläge auf Flüchtlingsheime ebenso statt wie der Sprengstoffanschlag auf das Münchner Oktoberfest und weitere Gewalttaten. Ausgehend von einer Rekonstruktion des Verbrechens, verknüpft Jensen die polizeilichen Mordermittlungen und den anschließenden Gerichtsprozess mit der allgemeinen Geschichte rechter Gewalt und den verhaltenen Reaktionen von Öffentlichkeit und Staat. So entsteht eine ebenso spannende wie erschreckende Geschichte, in der es um den unterschwelligen Antisemitismus nach 1945 geht, um Behörden, welche die Gefahren nicht erkennen wollten, und Medien, welche die Taten herunterspielten oder die Opfer zu Tätern erklärten. Die aufgezeigten Ermittlungspannen und die mangelnde Vorstellungskraft von Staat und Presse dürften dabei einige Leserinnen und Leser an die Aufarbeitung der NSU-Morde erinnern.
Wer sich darüber informieren möchte, wie ein rechtsradikales Milieu entstand, sich in den 1970er Jahren radikalisierte und schließlich Gewaltakte verübte, der findet hier viel Material. Lange Zeit – so wird deutlich – wurden diese Entwicklungen zwar von Politik und Medien wahr-, aber nicht ernstgenommen. Denn der rechte Terror richtete sich weniger gegen den Staat als vielmehr hauptsächlich gegen Menschen, die in einer gewissen gesellschaftlichen Außenseiterposition verblieben: Juden, Flüchtlinge und Migranten. Die deutsche Terrorabwehr war aber fatalerweise mehr auf den Schutz des Staates als auf die Sicherheit aller hier lebenden Menschen ausgerichtet.
Das Buch ist gut lesbar und mit einem sachlichen Ernst geschrieben. Jensen argumentiert stets seriös und transparent und führt seine Leserschaft sicher durch all die Windungen seiner Geschichte und das gründlich recherchierte Quellenmaterial. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Studien auf diesem Niveau unser Wissen über die „vergessene Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik“ erweitern und damit mittelfristig auch die öffentliche Erinnerung ergänzen.
Rezension: Dr. Sebastian Rojek
Uffa Jensen
Ein antisemitischer Doppelmord
Die vergessene Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 317 Seiten, € 24,–