Im Oktober 1903 erschütterte ein aufsehenerregender Kriminalprozess die Gemüter in Bayreuth. Der Angeklagte war der 23-jährige Jurastudent Andreas Dippold aus der Nähe von Bamberg, der in der Berliner Bankiersfamilie Koch als Hauslehrer tätig gewesen war. Ihm wurde vorgeworfen, die beiden ihm anvertrauten Jungen misshandelt und durch seine heftigen Züchtigungen einen der beiden Schüler, den 14-jährigen Heinz, getötet zu haben. Der Angeklagte, der sich auf wissenschaftliche Theorien der Zeit berief, begründete sein Verhalten damit, die beiden Jungen hätten sich dem Laster der Onanie hingegeben. Vor allem die Mutter hatte zunächst die sehr strenge Erziehung des Hauslehrers und dessen Strafaktion gegen die „geheimen Lüste“ der Jungen gebilligt; später jedoch suchten die Kochs ihn als Sexualstraftäter zu brandmarken. Der Prozess löste eine heftige Debatte um Erziehungsmethoden, Sexualität und Bestra‧fung aus.
Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung in Zürich, hat sich intensiv mit diesem spektakulären Fall befasst. Anhand der Gerichtsakten und anderer Quellen rekonstruiert er nicht nur Vorgeschichte, Tat und Prozess, sondern auch den Umgang der Medien und der Humanwissenschaften mit dem Geschehen. Ein spannendes Buch über ein brisantes Thema, das gerade angesichts der Schlagzeilen über Kindesmisshandlungen und sexuellen Missbrauch noch immer aktuell ist.
Rezension: Dr. Heike Talkenberger