Stefan Wolle ist nicht nur ein exzellenter Kenner der DDR-Geschichte, sondern er kann sie auch in kleinen Geschichten und farbigen Schlaglichtern plastisch erzählen. Dieses Talent hat bereits seine Bücher „Die heile Welt der Diktatur“ und „Aufbruch nach Utopia“ ausgezeichnet, die die Ära Honecker bzw. die 1960er Jahre in der DDR behandeln (beide auch im Ch. Links Verlag erschienen). Mit der Staatsgründung der DDR und der Entwicklung der SED-Diktatur bis zum Mauerbau 1961, die in diesem Buch behandelt werden, kommt die Trilogie nun zum Abschluss.
In einem atmosphärisch dichten Prolog schildert Stefan Wolle den großen Fackelzug zur Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 und dessen Wiederholung zum 40. Jahrestag der Republik, als jegliche Euphorie und Hoffnung auf eine bessere Welt im Sozialismus längst verflogen waren. Wie im Märchen habe bei der Geburt die gute Fee dem sowjetischen „Wechselbalg“ die Vision einer gerechteren Welt nach dem maßlosen Desaster des Nationalsozialismus mitgegeben, die böse Fee jedoch fünf Flüche.
Diese sind „die Fremdbestimmung durch die sowjetische Großmachtpolitik, die nur notdürftig kaschierte Diktatur einer Partei, das Primat der Ideologie, das ungelöste Dilemma, zwar ein Staat, aber weder Volk noch Nation zu sein, und die Kommandowirtschaft“. Die Abhängigkeit vom großen Bruder war paradoxerweise zugleich die Stärke der SED, der ungeliebten „Russenpartei“, denn andernfalls wäre das sozialistische Projekt bereits beim Volksaufstand am 17. Juni 1953 zusammengebrochen.Wolle beschreibt nicht nur die großen politischen Entwicklungslinien und Wegmarken, sondern widmet sich ebenso intensiv der alltäglichen Propaganda und Inszenierung der SED-Herrschaft, die alle Lebensbereiche durchdrangen. Er denkt die DDR nicht vom Ende her, sondern versucht dem Leser verständlich zu machen, weshalb so viele Menschen aus der DDR flohen und gleichzeitig so viele, insbesondere Intellektuelle, vom Kommunismus fasziniert waren und Stalin als den großen Führer verehrten. Egal, was passierte, für die Genossen war und blieb die DDR der bessere deutsche Staat.
In vielen Facetten beleuchtet Wolle sehr anschaulich den ideologischen Anspruch und die eher triste Realität, wobei er häufig längere Zitate – aus Dokumenten, der zeitgenössischen Belletristik oder aus Filmen – für sich sprechen lässt. Die bürokratischen Absurditäten und die moralinsaure Kulturpolitik werden mit Liebe zum Detail und feiner Ironie geschildert. „Auch Tanzmusik ist eine Klassenfrage“, zitiert Wolle aus dem Grußwort einer Tanzmusikkonferenz, die 1959 mit der Propagierung des „Lipsi“ der Jugend eine Alternative zu den „geschmack- und hemmungslosen Verrenkungen überseeischer Tanzimporte“ bieten sollte. Gegen Jeans, Rock ’n’ Roll und Jazz, den Inbegriff amerikanischer Dekadenz, hatten freilich auch die kleinbürgerlichen Sittenwächter im Westen keine Chance. Diese klug reflektierte und geschickt arrangierte Einführung in die DDR-Geschichte ist ein Lesevergnügen.
Rezension: Dr. Clemens Vollnhals