Anna Haag war eine couragierte Frau. Die 1888 nahe Stuttgart geborene Schriftstellerin und Pazifistin saß von 1946 bis 1950 als eine der ersten weiblichen Abgeordneten für die SPD im baden-württembergischen Landtag. Sie brachte das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in die Gesetzgebung ein. Im Mai 1940 hatte Anna Haag begonnen, ein geheimes, regimekritisches Tagebuch zu führen. Die 20 Tagebuchhefte überstanden den Krieg; ein 1945 erstelltes Typoskript mit einer Auswahl der Tagebucheinträge fand damals aber keinen Verleger. Nach gekürzten Ausgaben liegt nun endlich die Edition des gesamten Typoskripts vor.
Liest man Haags Einträge, so kommt man aus dem Staunen nicht heraus, so hellsichtig, kritisch und reflektiert äußert sie sich. Aus vielen ihrer Einträge spricht ihre Abscheu gegen den Nationalsozialismus und Hitler. Schon im September 1940 schreibt sie vom Verdacht „Irre und Gemütskranke“ würden „umgebracht“. Das Schicksal der Juden sowie der polnischen und russischen Kriegsgefangenen bedrückt sie so sehr, dass sie glaubt, „den Verstand zu verlieren“. Während andere Mütter vom „Heldentod“ ihrer Söhne sprechen, ist Haag froh, dass ihr in England in einem Lager lebender Sohn wenigstens „nicht morden“ müsse. Dass zu Kriegsende alle sich plötzlich als Opfer fühlten, empörte sie. Anna Haag ist es wert, dass man sich mehr als bisher an sie erinnert; das Buch ist ein wichtiger Baustein dafür.
Rezension: Dr. Heike Talkenberger
Anna Haag
„Denken ist heute überhaupt nicht mehr in Mode“
Tagebuch 1940–1945
Verlag Philipp Reclam, Ditzingen 2021, 448 Seiten, € 35,–