Schon viele Aspekte der DDR-Herrschaft wurden wissenschaftlich erforscht, dies gilt in gewissem Maß auch für das System der Heimerziehung. Im Mittelpunkt stand aber bisher vor allem der geschlossene Jugendwerkhof Torgau, dessen brachiale Zwangsmaßnahmen berüchtigt waren. Das Buch von Angelika Censebrunn-Benz schlägt einen weiteren Bogen und kombiniert nach der Schilderung der Rahmenbedingungen staatlicher Fürsorge in der DDR die „Leidens-orte“ mit individuellen, sehr berührenden Schicksalen. Diese werden anhand von zwölf Interviews präsentiert.
Etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche durchliefen und durchlitten die verschiedenen Einrichtungen zwischen 1949 und 1990. Vor allem die „Spezialheime“ und Jugendwerkhöfe für „schwer Erziehbare“ funktionierten nach dem Prinzip „Brechen und Aufbauen“, das heißt, zunächst sollte der Wille der Kinder gebrochen, ihnen unbedingter Gehorsam eingebläut werden, dann sollten sie die Prinzipien der sozialistischen Gesellschaftsordnung verinnerlichen.
Auch wenn es einzelne positive Erinnerungen der Betroffenen an ihre Heimzeit gibt, so überwiegt doch stark Belastendes. Immer wieder ist von massiven Gewaltanwendungen und Demütigungen die Rede, häufig kam es auch zu sexuellem Missbrauch. Bis heute leiden die meisten Heimkinder unter den Folgen der damaligen Erfahrungen. Zwar wurden 2012 Entschädigungszahlungen der Bundesrepublik an die Betroffenen geleistet, doch ihre Wunden sind noch nicht verheilt.
Rezension: Dr. Heike Talkenberger
Angelika Censebrunn-Benz
Stiefkinder der Republik
Das Heimsystem der DDR und die Folgen
Herder Verlag, Freiburg/Basel/Wien 2022, 232 Seiten, € 20,–