Oft steht in den Untersuchungen zur DDR-Geschichte die Oppositionsbewegung und ihr Beitrag zur Überwindung der SED-Diktatur im Mittelpunkt. Die Historikerin Renate Hürtgen wählt ein anderes Thema: Sie interessiert sich für diejenigen, die zwischen 1975 und 1989 einen Antrag auf Ausreise aus der DDR stellten und dafür gesellschaftliche Isolation und Repressionen erleiden mussten. Auf 3,8 Millionen schätzt man ihre Zahl.
In einer detaillierten, durch klare Fragestellungen gut strukturierten Studie geht sie den Beweggründen der Antragsteller aus dem Kreis Halberstadt nach, vor allem aber den bitteren Konsequenzen, die dieser Entschluss meist für die gesamte Familie mit sich brachte. Dabei stützt sie sich nicht nur auf die entsprechenden Akten, sondern auch auf 2009/10 entstandene Interviews mit den Betroffenen. Diese erinnerten sich noch lebhaft an die lange Wartezeit, die Willkürentscheidungen und die Schikanen, die sie erlebten, wie Arbeitsplatzverlust, Berufsverbot, Entzug des Personalausweises oder sogar Inhaftierung. Die Kinder litten unter Ausgrenzung in Schule und Freizeit.
Fast immer waren es nicht Intellektuelle oder Künstler, sondern Kellnerinnen, Krankenschwestern, Kraftfahrer oder Handwerker, die einen Antrag stellten. Nicht zuletzt trugen die Flut von Ausreiseanträgen und die Botschaftsbesetzungen von 1989 zum Fall des Regimes bei.
Rezension: Dr. Heike Talkenberger