Der Münchner Historiker Hans Woller widmet sein kleines, aber aufschlussreiches Buch einem Ereignisort, der kaum jemandem bekannt sein dürfte. Denn er führt die Leserschaft in das oberbayerische Dorf Niederthann im Jahr 1972. In diesem Provinznest schoss ein Familienvater am 5. November in seinem Haus auf fünf junge Frauen, eine davon hochschwanger. Sie starb, und eine weitere wurde schwer verletzt.
Die „Zigeunermädchen“, wie man damals sagte, hatten zwar das Haus betreten, aber nichts gestohlen, und flüchteten, als sie entdeckt wurden, während der Mann ihnen hinterherschoss. In diesem herabsetzenden Ausdruck deutet sich bereits das Hauptproblem an, das den Autor beschäftigt. Denn er nutzt die Tragödie, um exemplarisch die Funktionsweisen des (provinziellen) Rassismus zu analysieren. Der Fall reiht sich dabei in eine jahrhundertealte Diskriminierungsgeschichte gegenüber dem „fahrenden Volk“ ein. Ob die Tat selbst rassistisch motiviert war, bleibt offen, aber die Rekonstruktion des nachfolgenden Geschehens enthüllt zahlreiche Vorurteile auf Seiten der Dorfgesellschaft, der CSU, der Provinzpresse und der Kirchen.
Woller hat die zeitgenössischen Quellen umsichtig ausgewertet, mit Zeitzeugen gesprochen und auf dieser Basis eine historische Reportage verfasst. Diese deckt die Traditionen des Rassismus ebenso auf wie die Stadt-Land-Konflikte und die Instrumentalisierung des Geschehens durch Politiker, Anwälte oder Journalisten. Mehrere Gerichtsprozesse gegen den Täter, in denen die Verteidigung keineswegs davor zurückschreckte, rassistische Stereotype zu mobilisieren, die weitgehend uneingeschränkte Solidarität der lokalen Gesellschaft mit dem Schützen und die immer wieder durchscheinende Verachtung gegenüber der Opfergruppe machen deutlich, wie fest verwurzelt der Antiziganismus zu dieser Zeit war.
Wie Woller zeigt, änderten sich allerdings gegen Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre die Bedingungen: Sinti und Roma organisierten sich in einem Interessenverband, fanden zunehmend Gehör und zivilgesellschaftliche Unterstützung, während endlich die Aufarbeitung der Verfolgung dieser Gruppe im „Dritten Reich“ begann. Ignoranz, dumpfe Vorurteile und geradezu Hysterie hatten dagegen die Sichtweisen auf Sinti und Roma um 1970 bestimmt – und diese Faktoren waren wesentlich für den Umgang mit dem tödlichen Geschehen.
Dessen ungeachtet – so zeigt Woller abschließend – ist das Diskriminierungsrisiko für diese Gruppe immer noch sehr hoch, aber möglicherweise würden Politik und Zivilgesellschaft heute anders reagieren als 1972. Wollers „Lehrstück“ stimmt nachdenklich und trägt dazu bei, das Bild von der Bundesrepublik als einer „geglückten Demokratie“ (Edgar Wolfrum) deutlich differenzierter zu zeichnen. Aus der Perspektive gesellschaftlicher Außenseiter und provinzieller Verhältnisse stellt sich die Liberalisierung der Bundesrepublik nämlich deutlich komplexer dar, als simple Erfolgsgeschichten suggerieren.
Rezension: Dr. Sebastian Rojek
Hans Woller
Jagdszenen aus Niederthann
Ein Lehrstück über Rassismus
Verlag C. H. Beck, München 2022, 256 Seiten, € 26,–