„Diese Erzählungen berichten lediglich über das, was ich erfahren und erinnert habe.“ Mit diesen Worten eröffnet Michał Głowiński die deutsche Übersetzung seiner Autobiographie (auf Polnisch 1998). Damit verweigert er sich dem Anspruch einer historischen Genauigkeit bzw. eines umfassenden Berichts.
Der 1934 geborene renommierte polnische Literaturwissenschaftler erlebte als Kind die Bombardierungen Warschaus im Jahr 1939. Er wurde 1940 in das Ghetto Pruszków, Anfang 1941 ins Warschauer Ghetto deportiert und überlebte die dort stattfindenden Selektionen. Im Januar 1943 gelang der Familie die Flucht. Zunächst getrennt vom Vater und später auch von der Mutter, überlebte der achtjährige Michał unter verschiedenen Identitäten in Verstecken, Verschlägen, Hinterzimmern und in einem Kloster. Dass er durchkam, sei ein „überraschender, irrationaler, allen Regeln der Wahrscheinlichkeit widersprechender Zufall“ gewesen.
Erst seit den 1990er Jahren wird die Erinnerung an die Schoah auch von Menschen getragen, die als Kind überlebten – den „child survivors“. Öffentlich fanden ihre Erinnerungen lange kaum Gehör; ihren Berichten wurde vielfach mit Skepsis begegnet. Die kindliche Erinnerungsstruktur ist nicht chronologisch organisiert, sondern durch Lücken und Widersprüche gekennzeichnet. Häufig besteht sie aus unverbundenen szenischen Fragmenten, die einen hohen sinnlichen und emotionalen Gehalt aufweisen; „Erinnerungsblitze“, wie sie auch Głowińskis Buch versammelt. Es entfalten sich Worte, Gerüche, Farben und Szenen. Im Kapitel „Die Farbe“ beschreibt der Autor eindrücklich seine Erinnerungen an ein grenzenloses Grau ohne Eigenschaften, in das das Ghetto gehüllt gewesen sei. Es war das Grau des Papiers, mit dem man die Leichen abdeckte.
In „Das Törtchen“ erinnert er sich, wie seine Mutter ihm als Prämie für gutes Benehmen eine edle Süßspeise versprach – eine Sehnsucht des kleinen Jungen im Ghetto und ein gefeierter Tag, als sich dieser Wunsch erfüllte. Umso erschütterter sei er gewesen, als ein ausgehungerter Junge ihm kurz darauf die liebevoll eingepackte Kostbarkeit stahl und hungrig verschlang.
Episoden wie diese bauen nicht klar chronologisch aufein-ander auf. Der Text nimmt das Typische der kindlichen Erinnerung literarisch auf, wodurch sich der Weg von Verfolgung und Überleben zwischendurch ein wenig verliert. Gefühle von Angst, Furcht und Geborgenheit scheinen in Głowińskis Erzählungen allzu nah. Gleichzeitig macht der Autor klar, dass diese Nähe durch sein geschultes Schreiben vermittelt wird. Besonders beeindruckt, dass Głowiński seinen Text dem Gedenken an alle die Personen widmet, ohne die der junge Michał nicht überlebt hätte.
In Głowińskis Buch können wir lesen, wie kindliche Erinnerungen mit Jahrzehnten Abstand literarisch verarbeitet werden, indem sie möglichst wenig mit Berichten anderer sowie historischer Forschung vernetzt werden. Bilder aus dem Familienarchiv, ein Aufsatz über das autobiographische Schreiben Głowińskis und ein Gespräch des Autors mit Anna Artwińska und Peter Oliver Loew, die den Band herausgegeben haben, ordnen diesen Versuch behutsam ein.
Rezension: Dr. Wiebke Hiemesch
Michał Głowiński
Schwarze Jahreszeiten
Meine Kindheit im besetzten Polen
Herausgegeben von Anna Artwińska und Peter Oliver Loew
Konrad Theiss Verlag, Darmstadt 2018, 272 Seiten, € 24,95