Kein führender Nationalsozialist hat seit 1945 die deutsche und internationale Öffentlichkeit geprägt wie Albert Speer, bekannte er doch schon im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess seine „Gesamtverantwortung“ für die Verbrechen. Nach seiner Entlassung aus dem Spandauer Gefängnis 1966 publizierte er Memoiren und andere, millionenfach gelesene Bücher, stand allen Medien im In- und Ausland Rede und Antwort: Er war der „gute Nazi“. Das galt von links bis rechts und erfasste auch renommierte Publizisten und Fachhistoriker. Gewiss gab es immer wieder Hinweise, dass Speer aktiv an den Verbrechen des Regimes beteiligt war, doch das tangierte Speers öffentliche Rolle kaum.
Magnus Brechtken hat all dies mit umfassenden Archivrecherchen belegt. Speer war als Architekt ein früher NS-Karrierist, der durch seine Inszenierungen bald das Vertrauen Hitlers gewann. Für seine Prachtbauten wurden Judenwohnungen gezielt geräumt, Ziegelwerke auf sein Betreiben als Konzentrationslager (aus)gebaut. Er entwickelte im Krieg europaweit eine Transportflotte, so dass Hitler ihn Anfang 1942 zum Nachfolger des Rüstungsministers Todt machte.
Das europaweite Zwangsarbeitssystem von Gauleiter Franz Sauckel ging auf Speers Industriemanagement zurück, nicht aber die Produktionssteigerungen der Kriegswirtschaft, in der er gut mit Himmlers SS zusammenarbeitete und zu der er kreative Statistiken lieferte. Schon bei der Darstellung seiner Karriere bis 1945 fließt immer wieder ein, wie falsch Speers eigene Darstellung als verführter Technokrat war, der selbst nicht so recht verstand, dass um ihn her‧um ein Genozid stattfand.
Die zweite Hälfte der Studie wechselt die Perspektive und nimmt sich der Selbstinszenierung Speers an, berichtet über seinen Auftritt in Nürnberg, seine Kommunikation mit der Außenwelt während der 20-jährigen Haftzeit und seine Medienauftritte seither. Immer wieder re- und dekonstruiert Brechtken gekonnt, was der Exminister äußerte und was nach heutiger wissenschaftlicher Sicht tatsächlich geschah. Fazit: Speer war ein unwiderstehlicher, ja geradezu zwanghafter Selbststilisierer und oft ein platter Leugner dessen, was sein bisheriges Leben ausgemacht hatte, und das mit anscheinend gutem Gewissen.
Entscheidend war dabei die Unterstützung, die ihm Joachim Fest (der spätere Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“) und der Verleger Wolf Jobst Siedler zukommen ließen, die aus Rohmaterial das kanonische Speer-Bild formten. Dieses bestand bis zu Heinrich Breloers großer Fernsehserie 2005 fort. Schließlich wird der Band ganz zu einem Bericht aus der Medienwerkstatt Speer-Fest-Siedler.
So legt Magnus Brechtken nicht nur eine anregende entmystifizierende Biographie vor, sondern gibt auch ein Lehrstück über den Umgang mit der NS-Geschichte seit den 1970er Jahren vor allem in der Bundesrepublik. Hier tradierten sich von Autor zu Autor und damit auch in der Öffentlichkeit unkritische Darstellungen aus fabulierten Erinnerungen und Inszenierungen, anstatt dass sich die – durchaus vorhandenen – quellengesättigten Darstellungen durchsetzten.
Kurz vor Brechtken erschien 2015 eine halb so dicke Biographie des kanadischen Deutschland-Kenners Martin Kitchen, die bisher leider nicht übersetzt ist und zu Recht hoch gelobt wurde. Sie hat genau das schon geleistet, was Brechtken auch tut. Mit gelegentlich noch schärferem Ton zeichnet sie den lügenden, moralfreien Speer. Sie bettet sein Leben und Wirken oft breiter in die NS-Geschichte ein. Auch sie integriert die bisherigen kritischen Forschungen souverän, hat gewiss nicht so viele Archivalien gehoben und zitiert häufiger Speers Eigenaussagen, um diese dann doch als „alternative Fakten“ zu enthüllen.
Wenn Brechtken Kitchens wichtiges Buch ignoriert, in einer Fußnote spottet, da setze jemand immer noch den Baumeister in den Titel, klingt das recht anmaßend, denn alle wichtigen kritischen Aspekte finden sich auch bei Kitchen. Fazit: Es liegen nicht eine, sondern zwei gelungene Biographien vor. Wer mehr Zeit hat, wird zu Brechtken greifen. Wer die Speer-Legende knapper entlarvt sehen möchte und Englisch kann, sollte Kitchen lesen. Speer war kein guter Nazi, er war ein gewöhnlicher Nazi, aber einer der erfolgreichsten – vor und vor allem nach 1945.
Rezension: Prof. Dr. Jost Dülffer