Der Name Albert Schweitzers (1875–1965) steht seit mehr als 80 Jahren für Humanität und Integrität eines Einzelnen, und Lambarene ist zum Synonym für den selbstlosen Einsatz zur Rettung von Menschenleben auch unter primitivsten Bedingungen geworden. Unter den Trägern des Friedensnobelpreises gehört Schweitzer sicher zu den bekanntesten.
Der Mythos Albert Schweitzer, der schon zu seinen Lebzeiten begann und dem er selbst wenig entgegensetzte, hat sich auch nach seinem Tod als sehr lebensfähig erwiesen. Obwohl den „Hagiographien“ mindestens zwei sehr kritische biographische Werke entgegenstanden, haben sich Erstere in das kollektive Gedächtnis eingegraben. Das führte allerdings auch dazu, dass es niemand mehr für nötig hielt, sich näher mit dem „Arzt von Lambarene“ zu beschäftigen. Albert Schweitzer verharrte gewissermaßen im Stillstand.
Diesen hat Nils Ole Oermann mit seiner Biographie aufgehoben. Der Autor legt eine sehr fundierte kritische Würdigung des Mehrfachbegabten vor und verschweigt auch dessen „schwache“ Seiten nicht: So überging Schweitzer beispielsweise die Rolle seiner Frau und ihren Anteil am Lambarene-Projekt in seiner Autobiographie fast gänzlich, und in Afrika zeigte er sich trotz seines humanitären und christ‧‧lichen Einsatzes als wenig reflektierter „weißer Mann“, der „im Wesentlichen den machtpolitischen Primat der europäischen Kolonialmächte aufgrund ihres höheren kulturellen Anspruchs“ rechtfertigte, „mit dem er auch seine Ablehnung der vollen Bürgerrechte für Afrikaner begründete“.
Die Biographie wird fast allen Facetten des unermüdlich Tätigen gerecht: Es kommen sowohl der Theologe und Philosoph als auch der Arzt, der geniale Marketing-Stratege in eigener Sache, der Orgelspieler und der Bach-Interpret zur Sprache – gerade hier finden sich ausgesprochen gelungene Abschnitte. Dabei hat sich Oermann, selbst Theologe und Historiker, mit Schweitzers Theologie besonders intensiv auseinandergesetzt. Dieses Kapitel liest sich für Nicht-Theologen mitunter etwas mühsam, ansonsten sind dem Lesefluss keine Hindernisse gesetzt. Neben einer Fülle von gedanklichen Anregungen ist es das Verdienst des Autors, für die erneute Auseinandersetung mit Albert Schweitzer einen Anreiz geschaffen zu haben.
Rezension: Hähner-Rombach, Sylvelin