Im Jahr 2007 beendete Jonas Grethlein, der Autor des Buches, seine Postdoktorandenstelle in Harvard. Auf ihn warteten blendende Karrierechancen als vielversprechender junger Altphilologe. Als kurz darauf unvermittelt seine lebensverändernde Diagnose eintraf – Blasenkrebs mit einer 17-prozentigen Überlebenschance – lösten sich seine Zukunftspläne ins Nichts auf. Doch obwohl sich Grethlein zunächst verzweifelt fühlte, fand er einen 2800 Jahre alten Gefährten in dem Kriegshelden Achill aus der homerischen „Ilias“. So verbindet der Autor seine Autobiographie mit dem Schicksal Achills durch ausgewählte Passagen aus Homers Epos und schafft es, auch unkundigen Leserinnen und Lesern das bald 3000 Jahre alte Werk nahezubringen.
Ein krebskranker Altphilologe und ein jähzorniger griechischer Halbgott – auf den ersten Blick ein seltsames Duo, das gibt selbst Grethlein zu. Aus heutiger Sicht wäre als homerischer Held zum Beispiel der charismatische Odysseus oder der Familienvater Hektor viel nahbarer. Doch mit Achill verband den jungen Mann eine „Schicksalskontingenz“. Durch das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit fühlte er sich nach seiner niederschmetternden Diagnose Achill nahe, denn auch dieser wusste durch diverse Prophezeiungen um seinen nahen Tod und führte ihn mit der Rache an seinem Kontrahenten Hektor letztlich selbst herbei: „Erst mit meiner Krebsdiagnose fühlte ich die Tiefe von Achills Einsicht.“
Spätestens seit der „Percy Jackson“-Buchreihe von 2005, die auf dem antiken Helden Perseus basiert, boomt der Markt für „mythopoetische“ Texte und fiktionale Adaptionen der „Ilias“, wie Pat Barkers „Die Stille der Frauen“ oder „A Thousand Ships“ von Natalie Haynes, sind Programm. Grethlein bemerkt selbst: „Man kann sich heute, so scheint es, der Ilias nur nähern, wenn man sie von Grund auf umschreibt.“ Sein Werk ist jedoch von vorneherein nicht als fiktionaler Text gedacht und schafft es, sich seinen wissenschaftlichen Anspruch zu bewahren.
Nach seinem 2017 erschienenen Buch „Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzählens“ führt Grethlein nun in zehn Kapiteln durch das erste und schwerste Jahr nach seiner Krebsdiagnose in Verbindung mit Achills Schicksal aus der „Ilias“. Daraus ergibt sich ein abwechslungsreicher Genre-Mix aus Autobiographie, Homer-Interpretation und philosophisch angehauchten Überlegungen über das Menschsein.
Durch Grethleins kurzweiligen und (an manchen Stellen sehr) ehrlichen Schreibstil lässt sich das Buch schnell lesen und schwer aus der Hand legen. Auch wenn an einigen Stellen die Überleitungen zu Achills Schicksal nicht immer reibungslos funktionieren, bietet sich hier eine Interpretation der „Ilias“, die seinen Kriegshelden in ein neues, verletzliches Licht wirft und ihn trotz seines vor Kraft strotzenden Halbgottstatus als Inbegriff der Temporalität des menschlichen Lebens darstellt. Trotz aller Unterschiede zwischen der „Ilias“ und seiner Krankheit, half ihm das Epos, „bis auf den Grund“ seiner Krebserfahrung zu sehen. Jonas Grethlein zeigt damit, dass (antike) Literatur nicht nur unterhalten, sondern unserem Leben auch in den schwierigsten Situationen Halt geben kann.
Das Buch und damit auch das erste Jahr der Krebsbekämpfung endet im letzten Kapitel „Wieder am Meer“ und wieder in den USA, diesmal mit Grethleins Anstellung als Assistenzprofessor an der University of California. Grethlein schafft damit einen runden Abschluss mit offenem Ende. 2022, nach mehr als einem Jahrzehnt, hat er die Krebserkrankung überstanden – und auf diesem Abschnitt einen Freund fürs Leben gefunden.
Rezension: Lea Brüggemann
Jonas Grethlein
Mein Jahr mit Achill
Die Illias, der Tod und das Leben
Verlag C. H. Beck, München 2022, 208 Seiten, € 24,–