Da ist die Geschichte einer schönen Dame, die einen vortrefflichen Ritter namens Conrad geheiratet hatte. Um ihre Tugend war es jedoch nicht sehr gut bestellt: Als ihr beim Turnier ein anderer Ritter seinen Wundergürtel anbot, wurde sie schwach, „und die Bäume rumsten mit ihren Wipfeln rhythmisch aneinander“, bis die Dame neben ihrem Liebhaber zu Boden sank. Ritter Conrad war darüber natürlich alles andere als erfreut. Der Dame gelang es jedoch, ihren Ehemann wieder zurückzugewinnen – und zwar indem sie sich als Mann verkleidete und ihn kurzerhand verführte.
Aus dem Mittelalter haben sich zahlreiche Kurzerzählungen wie diese erhalten, die beim heutigen Leser bisweilen Irritation auslösen. Wer verstehen möchte, welche Deutungsmöglichkeiten sich hinter dieser und weiteren abstrusen Kurzgeschichten aus dem Mittelalter – etwa über ausreitende Backöfen oder fünfmal getötete Pfarrer – verbergen, dem sei das vorliegende Büchlein empfohlen. Mehrere Expertinnen und Experten für Kleinepik des Mittelalters haben darin eine Auswahl recht skurriler Texte zusammengetragen. In begleitenden „Anekdotischen Streiflichtern“ legen sie die möglichen Bedeutungen ihrer Lieblingsgeschichten offen.
Rezension: Anna Joisten
Sylvia Jurchen/Silvan Wagner (Hrsg.)
Man sol mich hubschen luten lesen
Die mittelalterliche Kunst der abstrusen Belehrung in neuen Übertragungen
Königshausen & Neumann, Würzburg 2023, 136 Seiten, € 16,–