Schon seit längerem hat die zeithistorische Forschung die linken Protestbewegungen der späten 1960er Jahre in den Blick genommen. Zuletzt ist dabei vor allem eine Tatsache als bemerkenswert benannt worden, nämlich der Theoriehunger von Protagonisten wie Rudi Dutschke, die sich ständig mit kompliziertesten Texten marxistischer oder unorthodoxer Linker beschäftigten und ein höchst eigentümliches Deutsch sprachen, das vor Fremdwörtern überquoll. Es scheint, als habe ein Teil dieser Studentengeneration einen unglaublichen Lesehunger gehabt, den die Werke von Adorno, Marx, Marcuse, Mao und vielen anderen stillen sollten. Woher kam und was bedeutete diese Faszination für „Theorie“? Der Historiker Benedikt Sepp rückt diese Fragen ins Zentrum seines gelungenen Buches über die West-Berliner Linken. Es geht also nicht um die Theorien selbst, sondern um das Theorieverständnis und die Funktion des Theoretisierens in Lesekreisen, Diskussionen, Versammlungen und so weiter.
Sepp rekonstruiert detailliert die Debatten über das Verhältnis von Theorie und Praxis und zeigt, dass es den Aktivisten nie gelang, diejenige Theorie zu erzeugen, welche die revolutionäre Praxis endgültig anleiten konnte. Die immer dringlichere Suche nach „der richtigen Theorie“ und der davon abhängigen Praxis trieb die Protestbewegung voran und führte zu ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen bis hin zu den Kaderparteien, in denen die theoretische Suchbewegung schließlich erstarrte. Insgesamt wird deutlich, dass das Theoretisieren als Lebensstilgestaltung verstanden werden muss, die eng mit den Praktiken des Demonstrierens, Musikhörens und Diskutierens verbunden war. Theorie erfüllte dabei verschiedene Funktionen, nämlich, sich als Kritiker der Verhältnisse darzustellen, die bewegungsinterne Hierarchie festzulegen und den eigenen, häufig banalen Alltag als permanente Arbeit gegen das „Kapital“ zu verstehen. Die weitgehende Unverständlichkeit der hierbei produzierten Texte wurde auch von den Akteuren immer wieder gesehen, diskutiert und kritisiert, ohne jedoch einen Ausweg aus dieser Komplexitätsfalle zu finden, weshalb Theorieproduktion und revolutionäre Praxis sich zwar gelegentlich trafen, aber nie zur Deckung kamen.
Angesichts des Themas wird es nicht verwundern, dass das Buch nicht immer leicht zu lesen ist und auch einiges an Wissen über die Entwicklung des studentischen Protests voraussetzt. Wer sich aber an die Lektüre der quellengesättigten Untersuchung macht, der wird danach besser verstehen, woher die zeitgenössische Theoriefaszination kam und wie diese den Protest maßgeblich prägte und dynamisierte. Und wer weiß, vielleicht begegnet der ein oder andere ältere Leser hier seinem früheren „Ich“, das sich die Welt auch einmal erlesen und theoretisch durchdringen wollte, zu einer Zeit, als das Lesen noch geholfen hat.
Rezension: Dr. Sebastian Rojek
Benedikt Sepp
Das Prinzip Bewegung
Theorie, Praxis und Radikalisierung in der West-Berliner Linken 1961–1972
Wallstein Verlag, Göttingen 2023, 352 Seiten, € 42,–