Märchenkönig – das ist das Etikett, das dem bayerischen König Ludwig II. wohl für immer anhaften wird. Nicht ohne Grund: Das blendende Aussehen und das schwärmerische Gemüt des romantisch gestimmten Königs, das einsame, un?stete und bizarre Leben, das er meist fern von seiner Residenzstadt führte, und vor allem seine prunkvollen Schlösser im bayerischen Alpenland haben seinen Mythos begründet.
Dabei wird oft übersehen, daß Ludwig II. sein Amt als konstitutioneller Monarch zeitweilig durchaus engagiert wahrnahm. In der Zeit vor und während der Reichsgründung von 1870/71 war Ludwig vor schwierige Entscheidungen gestellt, die er, obwohl sie ihm Zugeständnisse und Opfer abverlangten, gemäß dem Rat seiner Minister und den politischen Notwendigkeiten pflichtbewußt vollzog. Aus den Niederungen der realen Welt flüchtete sich Ludwig II. allerdings immer öfter in die Welt seiner Phantasie. Hier konnte er seinen Traum von einem idealen Königtum immer wieder neu inszenieren.
Schon als Kind zeigte der am 25. August 1845 in Schloß Nymphenburg bei München geborene Ludwig Ansätze seiner späteren künstlerischen Neigungen. Er zeichnete gern, spielte geschickt mit Holzbausteinen, begeisterte sich für Bilder, Geschichten, Kostümierungen und Theaterspielen. Sein Vater, König Maximilian II., eine kühle, distanzierte, zwanghafte Persönlichkeit mit Hang zu Grübe?leien und Selbstzweifeln, unterwarf den begabten, aber sensiblen Knaben bald einer strengen Erziehung, die an den Werten von Pflichterfüllung, Selbstzucht und Tugend ausgerichtet war. Die Mutter, Königin Marie, eine schlichte Frau ohne geistige Interessen, aber tiefreligiös, konnte sich ebensowenig wie ihr Gatte in das Gemüt ihres Sohnes einfühlen.
Regelverstöße des jungen Ludwig wurden unnachsichtig bestraft, mit Arrest, Essensentzug oder körperli?chen Züchtigungen, die Vater Max höchstpersönlich vornahm. Mit seinen phantasievollen Schwärmereien stieß der Heranwachsende bei seinen Eltern nicht auf Verständnis, sondern auf Ablehnung und Spott. Ludwig hat sich später verbittert über die beschämenden Kränkungen geäußert, die er als Kind und Jugendlicher erdulden mußte. Kein Wunder, daß bald seine „Schüchternheit“ auffiel, die er dann wieder durch betontes Selbstgefühl und kindliche Anmaßung kompensierte, weil er als Kronprinz „immer der Erste“ sein wollte. Seinem Vater stand er zunehmend mit verstecktem Haß, seiner Mutter mit einer ambivalenten Haßliebe gegenüber. Die Folge war, daß sich Ludwig immer mehr in eine Traumwelt zurückzog, die ihn über die enttäuschende Wirklichkeit hinwegtröstete. Es war eine Welt der idealisierten Helden, die ihm Identifikationsmöglichkeiten bot und sein labiles Selbstwertgefühl stützte.
Anregungen entnahm der phantasiebegabte Ludwig den romantischen Gestalten aus Geschichte und Sage, die er auf den Wandgemälden in Schloß Hohenschwangau sah, wo die königliche Familie jährlich den Sommer verbrachte. Als der 15jährige bei seinem ersten Opernbesuch die ihm lange vertraute Figur des Schwanenritters Lohengrin leibhaftig auf der Bühne erblickte, war er zutiefst bewegt. Die Heldengestalten der Wagnerschen Werke begannen die geistige Welt des Jünglings zu beherrschen. Wagner selbst wurde in den Träumen und Phantasien Ludwigs zu einer Art Heilsgestalt, zum „Genius der Zukunft“, lange bevor Ludwig ihn überhaupt kennenlernte. Gleichzeitig zog sich der Kronprinz zunehmend vom geselligen Umgang mit seinen Mitmenschen zurück und widmete sich Theaterbesuchen und ausgedehnter Lektüre. Tagebuchnotizen des 18jährigen Ludwig von einer „Lohengrin“-Aufführung im Februar 1864 veranschaulichen seine Begeisterungsfähigkeit, seine Beeinflußbarkeit und leicht erregbare Emotionalität in typischer Weise: „Schwärmen, Seligkeit, Wonne atmend … Wonne, immer näher und näher … Es naht der Schwan, wehe! fort, fort … Elsa, ach hättest du das Fragen unterlassen!! … Sie starb. – Wonnevoll, Sänger Niemann Lohengrin, herrlich, unvergleichlich! – Angegriffen, Zittern, Jubeln, Schmerz, Trauer!“ – Drei Wochen später verschied Maximilian II., Ludwig wurde König von Bayern.
Der Regierungsantritt Ludwigs II. am 10. März 1864 wurde mit großen Erwartungen begrüßt. Das schöne Äußere und das hoheitsvolle Auftreten des jungen Königs bezauberten das Publikum. Seine geistige Befähigung, sein „idealer hoher Ernst“ und der anfänglich große Arbeitseifer imponierten seinen Ministern. Jedoch war Ludwig für die Aufgaben eines konstitutionellen Monarchen nur unzureichend vorbereitet. Daß auch ein König nicht immer seinen Willen durchsetzen kann, erregte seinen Unmut, den er seine Berater auch spüren ließ; sie beklagten sein übertriebenes Selbstgefühl, seine Eigenwilligkeit und Rücksichtslosigkeit. Die Regierungsarbeit begann Ludwig zu beunruhigen und zu verstimmen. Bald wurde die Zahl der Ministervorträge und Audienzen verringert. Statt in dem ungeliebten München hielt sich der König oft monatelang in den Schlössern und Berghäusern und in der freien Natur des bayerischen Oberlandes auf. Hier fühlte er sich wohl, hier fand er „die mir so nötige Ruhe“. Nach Möglichkeit vermied er Auftritte in der Öffentlichkeit. Es begann das für Ludwig charakteristische Schwanken zwischen Pflicht und Neigung, Verantwortungsbewußtsein und Verweigerung, erwachsenem und unreifem Verhalten…
Literatur: Dirk Heißerer, Ludwig II. Reinbek bei Hamburg 2003. Franz Herre, Ludwig II. Sein Leben – sein Land – seine Zeit. Stuttgart 1986. Ludwig Hüttl, Ludwig II. König von Bayern. Eine Biographie. München 1986. Martha Schad, Ludwig II. München 2000. Rupert Hacker, Ludwig II. von Bayern in Augenzeugenberichten. 3. Auflage, München 1986.
Dr. Rupert Hacker