Lauter Kanonendonner kündigte am Vormittag des 7. Oktober 1777 im Stift Essen die Ankunft der neuen Äbtissin Maria Kunigunde, königliche Prinzessin von Polen und Litauen sowie Herzogin von Sachsen, an. Gemeinsam mit ihrem Bruder, dem Kurfürsten von Trier, bezog sie zunächst Quartier im Lustschloss Borbeck vor den Toren der Stadt. Am darauffolgenden Tag, so berichtet es die „Essendische Zeitung“, wurde Maria Kunigunde außerhalb der Stadt von einer Abordnung des Rats und zwei Kompanien der „jungen Wachmannschaft mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel“ empfangen und in die Stadt geführt. Den feierlichen Einzug durch die Stadt bis hin zur Stiftskirche säumten Ehrenpforten, alle Bürger standen Spalier und schwenkten Fahnen. Untermalt wurde das eindrucksvolle Schauspiel von Pauken und Trompeten. Im Essener Dom angelangt, wo sie von den Stiftsdamen und den Geistlichen des Stifts begrüßt wurde, folgte die Feier des Hochamts. Darauf wurde die Äbtissin, erneut unter Kanonendonner und Lobgesang, zur Abtei geführt, wo der Tag unter Gratulationen sowie einem Festmahl mit Champagner und Burgunder ausklang.
Das Vorrücken von Frauen in die höchsten politischen Ämter gilt als Symbol für Emanzipation und Fortschritt. Es ist jedoch ein weitverbreiteter Irrtum, dass Frauen erst mit der Einführung des allgemeinen und freien Wahlrechts zu Beginn des 20. Jahrhunderts Politikfähigkeit erlangt hätten. In der frühen Neuzeit hatten Frauen als verheiratete Fürstinnen, Witwen, vormundschaftliche Regentinnen oder Äbtissinnen selbstverständlich Anteil an politischen Entscheidungsprozessen.
Mit ihrem feierlichen Einzug in die Stadt Essen hatte Maria Kunigunde nun ganz offiziell das dortige kaiserlich frei weltliche Stift in Besitz genommen, nachdem sie bereits 1775 zu dessen Fürstin und Äbtissin gewählt worden war. Doch was verstand man überhaupt unter einem solchen Stift? Im 18. Jahrhundert wurde damit eine Gemeinschaft bezeichnet, die aus einer Gruppe von größtenteils bürgerlichen Klerikern sowie ausschließlich adligen Stiftsdamen bestand. Sie bildeten die beiden Kapitel des Stifts, denen nicht nur die Wahl der Äbtissin zustand, sondern die darüber hinaus Mitbestimmungsrechte an der Regierung beanspruchten. Ihnen stand die Äbtissin als Oberhaupt vor. Anders als in einem Kloster waren Äbtissin und Stiftsdamen keiner strengen Ordensregel unterworfen, mussten keine Gelübde ablegen und konnten das Stift sowohl für Reisen als auch auf Dauer wieder verlassen, beispielsweise, um sich zu verheiraten. Äbtissin und Stiftsdamen entstammten alle hochadligen Familien. Ihre Abstammung wurde bei Eintritt ins Stift streng kontrolliert. Das Stift diente dem hohen Adel als Versorgungs- und Erziehungsanstalt für seine Töchter, die dort ein standesgemäßes Leben führen konnten.
Die Besonderheit der kaiserlich frei weltlichen Damenstifte, von denen im 18. Jahrhundert sowohl in Nord- als auch in Süddeutschland weitere existierten, bestand in der Verbindung von geistlicher und weltlicher Herrschaft. Die Äbtissin war nicht nur das Oberhaupt ihrer Gemeinschaft, sondern gleichzeitig Landesherrin über ein anderthalb Quadratkilometer großes Territorium – quasi eine Herrschaft im Miniaturformat. Als solche erließ sie Gesetze, zog Steuern ein und sprach Recht. Darüber hinaus übte sie quasi-bischöfliche Macht über verschiedene Pfarrbezirke aus, in denen sie die Priester einsetzte, das gesamte Kirchenwesen steuerte und die geistliche Gerichtsbarkeit versah. Mit diesen letzten beiden Aspekten waren die Unabhängigkeit vom Kölner Kurfürsten als Diözesanbischof und die Reichsunmittelbarkeit von Stift und Äbtissin eng verbunden. Die Äbtissin erkannte keine andere geistliche Autorität als den Papst und keine andere weltliche als den Kaiser über sich an. Als reichsunmittelbare Fürstin hatte die Äbtissin zudem Sitz und Stimme auf dem Reichstag inne, beteiligte sich an den Reichssteuern und konnte nur vor den höchsten Reichsgerichten angeklagt werden. Auch wenn die Äbtissinnen in der Ausübung dieser verschiedenen Herrschaftsrechte in der Regel von männlichen Amtsträgern vertreten wurden, lag die Entscheidungsgewalt jedoch prinzipiell bei den Frauen selbst.
Maria Kunigunde war die jüngste Tochter des sächsischen Kurfürsten Friedrich August II., der als August III. zugleich König von Polen war. Ihr Großvater August der Starke war 1697 heimlich zum katholi‧schen Glauben übergetreten, um sich zum König von Polen wählen zu lassen. Der neue Rang und das neue Bekenntnis des Kurhauses spiegelten sich nicht nur in repräsentativen Bauten, sondern ebenso in seiner ambitionierten Heiratspolitik wider. Auch Maria Kunigunde sollte als Braut eines mächtigen europäischen Fürsten Einfluss und Ansehen ihrer Familie steigern. Ein erstes Heiratsprojekt an den russischen Hof während des Siebenjährigen Kriegs zerschlug sich jedoch bereits in der frühen Anbahnungsphase. Nun richteten sich die Ambitionen des Dresdner Hofs nach Wien. Dort war 1763 die erste Gemahlin des Erzherzogs Joseph, des späteren Kaisers, plötzlich gestorben. Auf der Suche nach einer Nachfolgerin fiel das Augenmerk seiner Mutter Maria Theresia auf die sächsische Prinzessin, um Kursachsen für seine Treue im Siebenjährigen Krieg zu belohnen. Maria Kunigunde war jedoch nicht die einzige potentielle Kandidatin. Auch am bayerischen Hof machte man sich Hoffnungen, die nächste Kaiserin zu stellen. Dabei schreckten die bayerischen Unter-händler nicht davor zurück, wenig schmeichelhafte Informationen über die sächsische Kurprinzessin zu verbreiten. Sie behaupteten, dass Maria Kunigunde „zu keinerlei Art von Künsten und Wissenschaften“ befähigt wäre, berichteten von vermeintlich unmoralischem Verkehr mit anderen Frauen und verwiesen auf „ihr völlig rotes Haar“. Im Gegenzug betonte man auf sächsischer Seite die Freundlichkeit, Frömmigkeit und musikalische Begabung der Prinzessin. Auf diese Weise gelang es, erste Zweifel Maria Theresias zu zerstreuen, die ebenso wie ihr Mann bereits für Maria Kunigunde eingenommen war.
In Absprache mit der sächsischen Kurfürstin-Witwe, der Schwägerin Maria Kunigundes, verabredete Maria Theresia ein geheimes Treffen der potentiellen Brautleute, um Joseph von den Vorzügen der Kurprinzessin zu überzeugen. Dieser hatte sich bis dahin nicht für die sächsische Prinzessin erwärmen können. Von der verwitweten Kurfürstin wurde der böhmische Badeort Teplitz als Treffpunkt vorgeschlagen, wo ihr zweitältester Sohn gerade zur Kur weilte. Somit erhielt die Reise den Anschein eines Verwandtenbesuchs, und ihr eigentliches Ziel blieb verschleiert. Das Treffen im Oktober 1764 verlief desaströs: Maria Kunigunde war verlegen, beteiligte sich nicht an den Gesprächen und schlug die Einladung des Erzherzogs zu einer musikalischen Aufführung aus. Auch wenn aus Dresden offiziell verlautbart wurde, die Zusammenkunft wäre „vergnügt vor sich gegangen“, begrub man insgeheim die Hoffnungen auf diese glanzvolle Verbindung. Zurück in Wien, erklärte Joseph gegenüber seinen Eltern, dass er Maria Kunigunde nicht heiraten wolle. Stattdessen entschied er sich für eine Ehe mit der bayerischen Prinzessin Maria Josepha, „weil die wenigstens Busen hat“ – wie ein Wiener Gesandter die Entscheidung des Erzherzogs kommentierte.
Es waren aber weniger solche Äußerlichkeiten, die das Heiratsprojekt zum Scheitern brachten, als vielmehr machtpolitische Interessen. Während eine bayerische Ehe künftige Erbansprüche Österreichs auf das Kurfürstentum Bayern mit sich brachte, hatte Kursachsen bereits vor dem und dann vor allem im Siebenjährigen Krieg an Macht und Ansehen verloren. Maria Kunigunde war also, politisch betrachtet, keine glänzende Partie mehr. Ganz im Gegenteil urteilte ihr Bruder Franz Xaver einmal: „Nur ein Wahnsinniger könnte daran denken, uns zu heiraten.“ Schwer wog die Blamage Maria Kunigundes vor den Augen des europäischen Adels. Denn das Treffen war keinesfalls geheim geblieben und damit die verschmähte Braut vor aller Welt bloßgestellt.
Eine Alternative zur Ehe als standesgemäße Versorgung nicht nur adliger Töchter, sondern auch nachgeborener Söhne hielt die Reichskirche bereit, an deren Spitze die Nachkömmlinge der mächtigen deutschen Dynastien als Kurfürsten, Bischöfe, aber auch Äbtissinnen standen. Dadurch entwickelten sich diese Ämter nicht selten zu politischen Außenposten der Herkunftsfamilien, konnten aber ebenso zu Orten der Emanzi‧pation hochadliger Sprösslinge werden. Nach dem Konfessionswechsel Augusts des Starken erhielt auch die kursächsische Dynastie Zugang zu den Stellen der mehrheitlich katholischen Reichskirche. Nicht nur eine ältere Schwester Maria Kunigundes machte als Äbtissin des kaiserlich frei weltlichen Damenstifts Remiremont in Lothringen Karriere, sondern auch ihr nächstälterer Bruder Clemens Wenzeslaus schlug die geistliche Laufbahn ein. Er wurde 1763 zunächst zum Bischof von Freising und von Regensburg gewählt. Auf diese beiden Bistümer verzichtete er jedoch wenig später wieder. 1768 bestieg er schließlich den Augsburger Bischofsstuhl und wurde im selben Jahr auch zum Erzbischof von Trier gewählt. Die Besonderheit der Führungspositionen in der Reichskirche bestand darin, dass ihre Inhaber nicht nur ein geistliches Amt innehatten, sondern gleichzeitig über Land und Leute herrschten. Eben ein solches Amt sollte Maria Kunigunde für die erlittene Schmach entschädigen.
Daher gab man sich in Dresden auch nicht mit dem ersten Vorschlag Maria Theresias zufrieden, die die Kurprinzessin zur Äbtissin des von ihr selbst gegründeten Damenstifts in Prag ernennen wollte. Denn das Stift war nicht reichsunmittelbar, seine Äbtissin österreichische Untertanin. Dies hätte einen Statusverlust für Maria Kunigunde bedeutet. Stattdessen richtete man den Blick zunächst auf die Abtei Münsterbilsen im heutigen Belgien, dann auf die Reichsabteien von Essen und Thorn, die man für „ein anständiges Etablissement“ hielt. Vor allem die kaiserlichen Minister waren federführend an den Verhandlungen mit den Kapiteln sowie der amtierenden Äbtissin beteiligt. Maria Theresia streckte zudem einen Großteil der nötigen Bestechungsgelder, insgesamt 20 000 Gulden, vor. Mit ihrer Unterstützung gelang im Lauf des Jahres 1775 trotz Widerstand schließlich die Wahl Maria Kunigundes zur künftigen Äbtissin beider Abteien noch zu Lebzeiten ihrer Vorgängerin. Erst nach deren Tod im darauffolgenden Jahr trat sie die Position der regierenden Fürstin und Äbtissin an…
Literatur Ute Küppers-Braun, Macht in Frauenhand – 1000 Jahre Herrschaft adliger Frauen in Essen. Essen 2002.
Auf Maria Kunigundes Spuren Auf Schloss Borbeck am Stadtrand von Essen bietet die Dauerausstellung „Schloss Borbeck und die Fürstäbtissinnen“ einen Einblick in die Geschichte des Schlosses und des kaiserlich frei weltlichen Damenstifts. http://www.schloss-borbeck.essen.de
Die St. Antony-Hütte ist Teil des LVR-Industriemuseums. Die Ausstellung erzählt vom Beginn der Eisen- und Stahlindustrie im Ruhrgebiet. Angeschlossen ist ein Industriearchäologischer Park. http://www.industriemuseum.lvr.de Die Kirche des Damenstifts ist seit 1958 Kathedralkirche des Bistums Münster. http://www.dom-essen.de
Exzellenzcluster Religion und Politik Der Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ besteht seit 2007 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Mit 200 Wissenschaftlern aus elf Nationen ist es der bundesweit größte Forschungsverbund dieser Art. Das Spektrum der 60 Forschungsprojekte und 47 Dissertationen reicht von der Antike bis zur Gegenwart und von Lateinamerika über Europa bis in die arabische und die asiatische Welt. Beteiligt sind Historiker, katholische, evangelische und muslimische Theologen, Juristen, Judaisten, Ethnologen, Archäologen, Politologen, Religionssoziologen sowie Literatur-, Sozial- und Islamwissenschaftler.
Die Wissenschaftler betreiben Grundlagenforschung und wollen zugleich Antworten auf drängende Zukunftsfragen in einer globalisierten Gesellschaft geben. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert den Verbund im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder bis 2012 mit insgesamt 37 Millionen Euro. Auch die Forschung unserer Autorin Teresa Schröder zu Maria Kunigunde von Sachsen findet im Rahmen des Exzellenzclusters statt.
http://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik
Teresa Schröder