I m Jahr 1934 veröffentlichte Julius Evola, einer der radikalsten Vertreter von Mussolinis rechter Avantgarde, das Buch „Die Erhebung wider die moderne Welt“ (deutsch 1935). Diesen Titel nahmen wohl die meisten antifaschistischen Historiker und Sozialwissenschaftler auch drei Jahrzehnte später noch wörtlich: als uneingeschränktes Bekenntnis zum antimodernen Wesen des Faschismus. Hatte dieser nicht versucht, die Uhr zurückzudrehen, indem er die Pracht des alten Rom wieder aufleben ließ? Wollte der Duce nicht die Freiheit der Unternehmer einschränken, indem er eine „korporatistische“ Kontrolle der Wirtschaft einführte? Und wollte er nicht die sozialen Freiheiten unterdrücken, indem er die kleinen Leute in Massen- und Militärorganisationen pferchte? Vor allem aber: Hatte er nicht die politischen und die persönlichen Freiheiten abgeschafft, indem er die Demokratie durch sorgfältig inszenierte Massenveranstaltungen ersetzte?
Betrachtete man – wie es vor allem marxistische Wissenschaftler taten – den Nationalsozialis-mus als eine Spielart des Faschismus, dann konnte das „Dritte Reich“ als extremes Beispiel dafür dienen, wie der Faschismus fortschrittliche Technologie ausschließlich für seine „barbarischen“ Ziele einsetzte. Noch offensichtlicher als Mussolinis Regime habe er seinen Hass gegen das Projekt der Aufklärung, ja gegen die Moderne an sich gezeigt. Dies erkläre die rituelle Verbrennung von Büchern und Gemälden, die Freisetzung primitiver Kräfte durch die Dämonisierung des „Anderen“ sowie die raffinierte moderne Propagandamaschinerie, durch die – mitten im Europa der Moderne – das Gefühl einer Urheimat geschaffen werden sollte.
Das „Dritte Reich“ (an sich schon ein archaisch aufgeladener Begriff) kennzeichnete demnach der Anspruch, eine von „Entartungs“erscheinungen gereinigte Volksgemeinschaft zu begründen, deren Mitglieder wieder mit den ursprünglichen Kräften der Natur, der Geschichte und des Bodens verbunden wären. Der Modernisierungsprozess würde umgekehrt und der entwurzelte Kosmopoli‧tismus der „Asphaltliteratur“ durch eine lebenspendende „nordische“ Weltanschauung ersetzt. So würden die Deutschen kollektiv gegen Individualismus, Materialismus und Kulturbolschewismus immunisiert.
Unter diesem Blickwinkel galt auch die Besetzung Äthiopiens durch Italien nicht als Beispiel für modernen Kolonialismus – selbst wenn Flugzeuge, Bomben und Senfgas eingesetzt wurden –, sondern als Projekt mit dem antimodernen Ziel, Roms „afrikanisches Reich“ wiederzubeleben und Mussolini als neuen Kaiser Augustus zu feiern. Und die technisch anspruchsvolle Eroberung großer Teile Nord- und Osteuropas durch die Nazis interpretierte man als vor allem ideologisch in-spiriert, nicht als erkennbare Variante moderner Kolonisierung und strategischen Denkens: Wie ein Heuschreckenschwarm rollten oder flogen die Lastwagen, Panzer, Flugzeuge und Geschütze nach Osten, angetrieben nicht nur von erbeutetem rumänischem Diesel, sondern auch vom Gedanken eines Kreuzzugs gegen die Moderne, der die schlummernden „arischen Energien“ wecken und die Deutschen in eine Heldenrasse verwandeln sollte.
In dieses Bild fügten sich gut Werke wie Adolf Hitlers „Mein Kampf “, Alfred Rosenbergs „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ (so der Originaltitel!) oder Walther Darrés „Neuadel aus Blut und Boden“ ein, die den Nationalsozialismus als Kampf gegen die Kräfte der modernen Gesellschaft präsentierten. Ebenso passte dazu das Bestreben des Regimes, eine Nation zu schaffen, deren industrielle und militärische Stärke auf dem Einsatz von Millionen von Sklaven beruhte und deren Ziel nicht Wohlstand oder Fortschritt war, sondern die Verwirklichung einer rassisch begründeten Gemeinschaft und heldenhafter Größe.
Herrschte jahrzehntelang die Überzeugung vor, dass der Faschismus eine radikale Zurückweisung der und einen Aufstand gegen die Moderne darstelle, so verfolgt die anglo-amerikanischen Forschung seit den 1990er Jahren einen neuen Ansatz. Man erkannte an, dass ein zentrales Element faschistischer Ideologie – das auch den ritualisierten, charismatischen Politikstil, die Politik und die heftigen Angriffe auf Kommunismus und liberale Demokratie erklärte – in dem nachdrücklich vorgetragenen Anspruch der Faschisten zu sehen war, dass sie keine Restauration bezweckten, sondern eine über die liberale und über die konservative hinausführende, grundlegend neue Weltordnung schaffen wollten. Neu war bei diesem Forschungsansatz nicht, dass man die zukunftsgerichteten Aspekte des Faschismus berücksichtigte – das hatte es auch früher schon gegeben, und immer mehr Autoren porträtieren ihn heute als antikonservative, revolutionäre Politikform, als ideologiegetriebene Bewegung, die eine „radikale politisch-kulturelle Erneuerung unter reaktionären Auspizien“ anstrebte (so Arnd Bauernkämpfer 2006). Neu war vielmehr, dass man den Faschismus als eine Variante der Moderne ansieht…
Prof. Dr. Roger Griffin