Ende Oktober 1917 durchbrachen die Truppen der Mittelmächte die Südfront bei Caporetto (slowenisch Kobarid, deutsch Karfreit) im oberen Isonzo-Tal. Das italienische Heer stand am Rand des Zusammenbruchs. Über die damalige Stimmung schrieb der Schriftsteller und Journalist Curzio Malaparte, der als Soldat selbst an den Kämpfen teilnahm, in seinem Essay „Viva Caporetto!“: „Wir wollen nicht mehr kämpfen. Wir wollen den Frieden. Wir sind müde, erschöpft, verzagt. Warum immer wir ?“ Erst am Fluss Piave, etwa 40 Kilometer von Venedig entfernt, konnten die Italiener die Front stabilisieren. Die Niederlage von Caporetto war ein Wendepunkt und wurde wenige Jahre später auch von den Faschisten zu einem solchen erkoren; hier habe sich das Ende des alten, liberalen Italien angekündigt.
Viele Zeitgenossen erwarteten damals, dass Italien von einer sozialistischen Revolution erschüttert werden würde. Auch Malaparte ging 1921, als sein „Viva Caporetto!“ erstmals erschien, noch von einer proletarischen Revolution aus. Wenige Jahre später schwärmte dann auch er von einem „dritten Weg“ und einem „nationalen Sozialismus“.
Seit dem Winter 1916/17 war es auf der Appeninen-Halbinsel zu Protesten gekommen. Die prekäre Ernährungslage und die allgemeine Kriegsmüdigkeit führten zu Arbeiterunruhen, die wie in Turin im August 1917 vom Militär niedergeschlagen wurden. Die Ereignisse in Russland, Lenins Verheißungen von Frieden und Umverteilung, verliehen den Forderungen der italienischen Arbeiterschaft weiteren Auftrieb. Die sich verbreitende revolutionäre Stimmung führte zu zahlreichen Streiks, Fabrik- und Landbesetzungen. Diese bildeten einen wichtigen Hintergrund für den Aufstieg des Faschismus.
Indes erhöhten auch die Folgen, die sich aus dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im Jahr 1917 ergaben, die Bereitschaft zahlreicher Italiener, einen „dritten Weg“ zwischen westlichem Liberalismus und sowjetischem Bolschewismus zu gehen. Da das Streben nach einem „größeren Italien“ nur auf Kosten des habsburgischen Bündnispartners erfolgreich sein konnte, war Italien 1915 aus dem Dreibund mit dem deutschen Kaiserreich und Österreich-Ungarn ausgeschert. Während die Mittelmächte erst, als es bereits zu spät war, Bereitschaft signalisiert hatten, Italien entgegenzukommen, hatte die Entente Italien im geheimen Londoner Vertrag vom 26. April 1915 eine reiche Beute zugesichert, die weit über die irredenta, die „unerlösten“, von Italienern bewohnten Gebiete zwischen Trient und Triest hinausreichte: Tirol bis zum Brenner, die Grafschaften Görz und Gra‧disca, Istrien bis zur Kvarner-Bucht, weite Teile der dalmatinischen Küste, zahlreiche Inseln der Adria und die Souveränität über den Dodekanes.
Mit diesen Zusicherungen hatte die Entente 1915 Italiens sacro egoismo, den „heiligen Egois‧mus“, genährt und den Nationalismus der zum Kriegseintritt drängenden Interventionisten angestachelt. Doch an erster Stelle des von US-Präsident Wilson am 8. Januar 1918 verkündeten 14-Punkte-Programms stand nun die Abschaffung der Geheimdiplomatie. Damit war die Gültigkeit des Londoner Vertrags in Frage gestellt. Zudem widersprachen die von Italien erhofften Gebietsgewinne der Idee einer Neu‧ordnung Europas gemäß dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Der Konflikt sollte sich im Zuge der Pariser Friedensverhandlungen zuspitzen und dazu führen, dass die italienische Delega‧tion entmutigt und durch die zunehmende Geringschätzung des italienischen Kriegs‧beitrags gedemütigt Versailles im April 1919 verließ. Das Ergebnis der Verhandlungen wurde von dem italienischen Dichter, nationalistischen Agitator und Kriegshelden Gabriele D’Annunzio zum „verstümmelten Sieg“ erklärt. Wie in Deutschland aufgrund der „Schmach von Versailles“ eskalierte in der Folge auch auf der AppeninenHalbinsel die ohnehin prekäre Lage – hatte der Krieg doch weder die Hoffnungen auf ein gerechteres noch jene auf ein größeres Italien (jedenfalls im Verhältnis zu den Erwartungen) zu erfüllen vermocht.
Der Krieg hinterließ nicht nur ein zutiefst gespaltenes Land. Mehr als eine halbe Million Solda‧ten waren gefallen, und doppelt so viele kehrten versehrt aus dem „Menschenschlachthaus“ zurück. Die Wirtschafts- und Finanzlage Italiens war desolat, die Umstellung auf Friedenswirtschaft stockte, die Wiedereingliederung der Frontkämpfer misslang. Im Krisenjahr 1919 brachen sich die enttäuschten Hoffnungen Bahn. Die zunehmend autoritäre Regierung war machtlos und verkörperte in den Augen einer wachsenden Schar von Gegnern zunehmend das Verknöcherte und Morsche, das es zu beseitigen galt. Ob links oder rechts, alle waren sich einig, dass es einer radikal neuen Ordnung und eines Aufbruchs in eine andere Zukunft bedurfte.
Angesichts der vom Krieg herbeigeführten „Katastrophe der kapitalistischen Welt“, so der führende marxistische Intellektuelle Antonio Gramsci, sah Italiens Linke ihre Stunde gekommen. Zwischen 1918 und 1920 schnellten die Mitgliederzahlen des PSI (Partito Socialista Italiano) ähnlich wie jene der Gewerkschaft CGdL (Confederazione Generale del Lavoro) fast um ein Zehnfaches nach oben. Bei der Wahl im November 1919 errang der PSI 32,3 Prozent der Stimmen. Doch wenngleich die Jahre 1919 und 1920 als „rotes Doppeljahr“ in die italienische Geschichte eingingen, stand an dessen Ende nicht der Sieg, sondern die Spaltung der Linken in Sozialisten und Kommunisten. Während die reformorientierte Linke zuerst die Not zu lindern und die Arbeitsbedingungen zu verbessern trachtete, strebten die von den Bolschewiki inspirierten Revolutionäre vor allem eine rasche radikale Umgestaltung der (Besitz-)Verhältnisse an.
Streiks, Fabrikbesetzungen und Landnahmen prägten das rote Doppeljahr und nährten die Furcht des Bürgertums vor einer „Diktatur des Proletariats“. Diese Aktionen untergruben aber auch das Vertrauen in die Fähigkeiten des althergebrachten Staates, die anstehenden Probleme zu lösen. Während die Linke ihre anfänglich vielversprechende Position verspielte und sich spaltete, tat sich mit dem Faschismus eine Alternative auf, die eine Erneuerung Italiens verhieß und zugleich versprach, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen…
Literatur: Fernando Esposito, Mythische Moderne. Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien. München 2011. Robert O. Paxton, Anatomie des Faschismus. München 2006. Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA. Köln 2002. Wolfgang Schieder, Faschistische Dikta‧turen. Studien zu Italien und Deutschland. Göttingen 2008. Hans Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert. München 2010.
Dr. Fernando Esposito