Seit wann beschäftigen Sie sich mit ihm?
Henryk M. Broder: Ich war Anfang bis Mitte dreißig, als ich Theodor Herzls „Judenstaat“ gelesen habe. Später „Altneuland“, irgendwann auch eines seiner Dramen, und je mehr ich von ihm und über ihn las, umso eindrucksvoller fand ich ihn.
Was hat Sie beeindruckt?
Er hatte eine Vision, die zur damaligen Zeit vollkommen absurd war, und er vertrat diese Vision mit enormer Kraft und Ausdauer. Dabei war er wohl ein sehr unglücklicher Mensch. Er war in einer unglücklichen Ehe gefangen, hatte kein gutes Verhältnis zu seinen Kindern. Er packte seine ganze Lebensenergie in diese Vision hinein. Ob ihm das gutgetan hat, bezweifle ich. Aber diese Konzentration auf ein Ziel, das fand ich großartig. Mich erinnerte das immer an Artisten, die ihr Leben lang für eine Kunstnummer üben. In diesem Sinn war Herzl ein Artist. Er hat ein völlig absurdes Ziel verfolgt. Schade, dass er die Umsetzung nicht erlebt hat.
Würde er seine Vision wiedererkennen?
Vermutlich nicht. Das ist ja das Schöne an Visionen: Wenn sie wahr werden, sehen sie ganz anders aus, als der Erfinder sie sich vorgestellt hat. Aber das macht nichts. Die Grundzüge sind ja im Einklang mit seiner Vision – ein Judenstaat, eine Heimstätte für die Juden, ein Ort der Zuflucht, wo Juden einigermaßen sicher sein können. Er hatte einen sehr detaillierten, eindrucksvollen Plan für den Judenstaat ausgearbeitet. Der Sechs- oder SiebenStunden-Tag sollte Regelarbeitstag werden – eine sehr schöne Vorstellung. Er wollte einen demokratischen säkularen Staat. Einiges ist wahr geworden, vieles nicht.
Wie kam er darauf, die Juden, eine Religionsgemeinschaft, als Nation zu definieren?
Das war ja das Tolle, dass er den religiösen Gedanken in einen nationalen verwandelte. Es wird bis heute darüber gestritten, was die Juden sind, und ich persönlich finde das das Schöne am Judentum, dass es nicht definierbar ist. Ich bin nicht gläubig, ich fahre am Samstag Auto, ich esse nicht koscher. Ich glaube trotzdem, dass ich sehr jüdisch bin, aber ich könnte Ihnen nicht erklären, warum. Wenn es etwas Gemeinsames gibt etwa zwischen polnischen und jemenitischen Juden, dann ist es die Kultur der Fragen. Das Judentum ist eine Religion des Zweifels – man kann sogar mit Gott verhandeln.
Sehen Sie Herzl als vorbildlich?
Nein, das nicht. Ich habe etwas gegen Vorbilder. Er war einer, der versucht hat, das Unmögliche in die Realität umzusetzen. Das ist an sich noch kein Verdienst. Dennoch: Die Nationwerdung der Juden und die Gründung eines jüdischen Staates waren das einzige positive Ereignis in den letzten 2000 Jahren jüdischer Geschichte.
Interview: Dr. Winfried Dolderer
Henryk M. Broder geb. 1946, deutscher Publizist und Buchautor, Mitbetreiber des Blogs „Die Achse des Guten“. Seit 1995 Tätigkeit für „Der Spiegel“, seit 2011 für „Die Welt“. Zu seinen Werken zählen „Der ewige Antisemit“ (1986/2005), „Die letzten Tage Europas“ (2013).
Theodor Herzl (1860 –1904, Foto von 1901), österreichisch-ungarischer Schriftsteller, Begründer des Zionismus. 1891 bis 1895 Zeitungskorrespondent in Paris, wo er die „Dreyfus-Affäre“ erlebte. Publizierte 1896 „Der Judenstaat“. 1897 in Basel zum Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation gewählt. 1899 Gründung des „Jewish Colonial Trust“ zum Kauf von Land in Palästina.