Seit wann beschäftigen Sie sich mit Humboldt?
Claudia Baumhöver: Auf ihn aufmerksam geworden bin ich durch die von Hans Magnus Enzensberger 2004 besorgte Ausgabe seines Hauptwerkes „Kosmos“. Richtig wichtig geworden ist er für mich im Sommer 2016. Damals entschlossen wir uns, die Gesamtausgabe der bislang nie edierten Aufsätze, Essays und Briefe Humboldts zu betreuen, an der der Berner Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich mit seinem Team seit nahezu zehn Jahren arbeitet. Wahrlich ein Editionsprojekt der Superlative – an die 1000 Texte zu 30 Wissensdisziplinen, die in über 250 verschiedenen Medien in 14 Sprachen an 100 über alle fünf Kontinente verstreuten Publikationsorten erschienen sind.
Sie bewundern ihn – wofür?
Vor allem für seinen großen Humanismus. Er hat zu seiner Zeit Dinge getan und thematisiert, die auch heute noch aktuell sind. Er stellte sich gegen den Antisemitismus, war ein Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit. Er befasste sich mit dem internationalen Handel seiner Zeit, erkannte als Erster wesentliche Gesetzmäßigkeiten, die unser Weltklima bestimmen. Er hat gegen die Sklaverei gekämpft. Er hat unsere Welt auf den Kopf gestellt, und zwar immer für die Menschen und die Wissenschaft. Er hat als einzelner Mann das eurozentrische Weltbild erledigt. Und er hat gezeigt, dass ein einzelner Mensch unendlich viel bewegen kann, und damit ist er für uns Vorbild.
Was können wir von ihm lernen?
Dass man an die Wissenschaft und den Menschen glauben muss. Dass jeder Einzelne wichtig ist. Dass man in großen, übergreifenden Zusammenhängen denken muss. Er war der internationalste Publizist seiner Zeit, um dessen Aufmerksamkeit sich die Leute rissen. Wenn er abends Vorträge hielt, schickte die feine Berliner Gesellschaft schon tagsüber ihre Diener, um Plätze freizuhalten. So berühmt waren diese Vorträge, in denen er spielerisch alle Wissenschaften verknüpfte.
Ist Humboldt eine Identifikationsfigur in Zeiten der Globalisierung?
Absolut. In den Ländern, die er bereiste, ist er den Menschen voller Hochachtung begegnet, frei von allen Vorurteilen und jenseits aller kolonialen Attitüde. Daher auch sein großes Engagement für die Abschaffung der Sklaverei. Er hat so viel revolutioniert, weil er so frei war im Kopf und im Denken und so neugierig auf die Menschen und die Welt. Wenn es überhaupt in unserer Zeit − in der Europa so angezählt ist, dass wir nicht mehr wissen, wer wir sind − jemanden gibt, der uns wirklich etwas zu sagen hat, dann Alexander von Humboldt.
Interview: Dr. Winfried Dolderer
Claudia Baumhöver geb. 1959, deutsche Verlegerin. Öffentlichkeitsarbeit für „Taurus Film“ und „Columbia Pictures“. 1994 Gründungsgesellschafterin des Hörverlags. Seit 2016 Leiterin der dtv Verlagsgesellschaft. 2007 „Verlegerin des Jahres“.
Alexander von Humboldt (1769 –1859), Naturforscher, Publizist, Wissenschaftsmanager, „Wiederentdecker Amerikas“. Nach Anfängen in der preußischen Bergbauverwaltung 1799 bis 1804 Forschungsreise nach Südamerika. Zwei Jahrzehnte Auswertung und Publikation der Ergebnisse in Paris. 1829 Sibirien-Expedition.