… Von Anfang an hatte das Reichskammergericht sich bemüht, im Rahmen der damaligen Rechtsauffassungen dem Bürger zu seinem Recht zu verhelfen. In den sogenannten Untertanenprozessen hat es vor allem Schutz vor willkürlicher Verhaftung gewährt, wie der Fall von Hans Hess gegen den Oberamtmann von Laubach und den Grafen von Solms-Braunfels zeigt. Hess wurde durch den Grafen von Solms-Braunfels Gotteslästerung und Blasphemie vorgeworfen, da er gegenüber einem Pfarrer geäußert hatte, daß „die Pfaffen die seligsten Menschen seien“, weil das, was sie in der Kirche predigten, von den Bauern für wahr gehalten werde. Auch sei es absolut falsch, was die Prediger lehrten: daß diejenigen, die nicht getauft seien, nicht selig werden könnten. Dabei berief er sich auf Adam und Abraham. In dem folgenden Prozeß vor dem Oberamtmann in Solms-Laubach erschien Hess nicht, weil er bereits einmal trotz freien Geleits in dieser Sache verhaftet worden war. Er wandte sich deshalb an das Reichskammergericht. Dieses entschied durch Mandat vom 17. September 1567, daß das Vorgehen des Oberamtmanns ein Verstoß gegen den reichsrechtlich verbürgten Schutz vor willkürlicher Gefangennahme gewesen sei, und verbot eine weitere Verhaftung von Hess.
Ähnlich verhielt sich das Reichskammergericht auch in anderen Fällen. Dem Grafen zu Solms-Greifenstein, Wilhelm I., gab es durch Mandat vom 4. Februar 1615 auf, etliche Bauern und Bürger aus dem Gefängnis freizulassen, damit sie ihre Prozesse gegen den Grafen vor dem Reichskammergericht in Speyer fortsetzen konnten. Der Graf hatte den Widerstand der Bauern gegen seine Anordnung, die althergebrachten Frondienste in Form von Heu-, Kalk- und Mistfuhren auch auf Wein-, Holz- und Baufuhren auszudehnen, als Rebellion gegen die Obrigkeit bezeichnet und ihre Viehweiden zur herrschaftlichen Nutzung umpflügen lassen. Im Verlauf der Prozesse vor dem Reichskammergericht mußten sich die Greifensteinschen Dörfer und Gemeinden gegen gewaltsame Überfälle des gräflichen Militärs wehren, mit denen der Graf die Untertanen gefügig machen wollte.
Große Verdienste kommen dem Reichskammergericht auch in den Hexenprozessen zu. Obwohl das Reichskammergericht für Strafverfahren nicht zuständig war, konnte es aufgrund seiner in der Kammerge?richtsordnung niedergelegten Rechte überprüfen, ob die strafgerichtlichen Beweisregeln nach der Peinlichen Halsgerichtsordnung von 1532 (Carolina) eingehalten wurden. Denn strenge Verfahrensregeln sollten dazu dienen, willkürliche und sadistische Folterungen zu verhindern, mit denen man ein Geständnis des Delinquenten herbeizuführen versuchte. Bei Vorliegen gravierender Verletzungen von Verfahrensgrundsätzen konnten sich die Angehörigen an das Reichskammergericht wenden. Die damalige Rechtswissenschaft stufte die Hexerei als ein besonders schwerwiegendes Verbrechen mit der Folge ein, daß im Hexenprozeß die allgemein geltenden Verfahrensgrundsätze außer acht gelassen wurden. Die mit Hexerei befaßten Gerichte ließen daher die „Besagung“, also die Beschuldigung anderer Frauen durch eine unter der Folter leidende Delinquentin, als ausreichende Begründung dafür zu, daß auch die derart Benannten gefoltert werden durften.
Da für die Anwendung der Folter ansonsten ein hinreichender Tatverdacht vorgeschrieben war, nutzte das Reichskammergericht diesen Ansatz, um – auf Antrag – in den gravierendsten Fällen zu intervenieren und eine weitere Konkretisierung des hinreichenden Tatverdachts zu fordern. Eine – vorläufige – Auswertung der Reichskammergerichtsakten zeigt, daß sich das Gericht in dem Zeitraum zwischen 1508 und 1787 in über 180 Verfahren mit Hexerei-Delikten zu befassen hatte.
Beispielhaft für die Haltung des Reichskammergerichts ist der Fall der Anna Schreiber aus Osnabrück, die man wegen angeblicher Teilnahme am Hexentanz verhaftete und dreimaliger Folterung unterzog. Da sie kein Geständnis ablegte, wurde sie zwar freigelassen, mußte aber zuvor auf jegliche Schadensersatzansprüche verzichten und ihre gesamten Güter verpfänden. Das Reichskammergericht entband die unschuldig Inhaftierte von ihrem Verzicht auf Schadensersatz und rehabilitierte sie…
Altes Reich und neues Recht. Von den Anfängen der bürgerlichen Freiheit Sonderausstellung im Reichskammergerichtsmuseum/Stadt- und Industriemuseum Wetzlar 15. September – 10. Dezember 2006
Mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation am 6. August 1806 endete auch die Ära des Reichskammergerichts. Die Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung und die Städtischen Sammlungen Wetzlar nehmen dieses Jubiläum zum Anlaß für eine Sonderausstellung. Im Mittelpunkt steht der Versuch, jene Elemente der Rechtsprechung des Gerichts darzustellen, die zukunftsweisend sein Ende überdauert haben. Dabei veranschaulicht die Ausstellung die Neuentfaltungen im Rechtsverständnis und in der Rechtspraxis, die aus Aufklärung, Französischer Revolution und napoleonischen Umwälzungen gefolgt sind. In eingängigen Bildern wird die Rolle des Reichskammergerichts geschildert, das als unabhängiges Gericht im zersplitterten Deutschland über den Territorien und Konfessionen stand und damit eine Harmonisierung des Rechts bewirkt hat. Ausgestellt sind zahlreiche Gemälde und Dokumente, die die Entwicklung anschaulich beleuchten.
http://www.wetzlar.de
Georg Schmidt-von Rhein