In der modernen Forschung ist es fast in Vergessenheit geraten: Keinem zweiten römisch-deutschen König oder Kaiser ist von seinen Zeitgenossen so viel Widerstand entgegengesetzt worden wie Heinrich IV. Dieser Widerstand resultierte aus einer Fülle von massiven Vorwürfen, die Heinrich auf nahezu allen Gebieten seiner Amts- und Lebensführung gemacht wurden. Der Wahrheitsgehalt dieser Vorwürfe ist nur schwer zu beurteilen. Man kann jedoch konstatieren, daß in einer Weise schmutzige Wäsche gewaschen wurde, wie es bis dahin völlig unbekannt war.
Dem König wurden heimtückische Mordanschläge auf Personen vorgeworfen, die sein Mißfallen erregt hatten, und man unterstellte ihm die Vergewaltigung von Frauen und Mädchen, an denen er Gefallen gefunden hatte. Es wurde sogar kolportiert, daß er seine eigene Schwester, die Äbtissin von Quedlinburg, festgehalten habe, als sie ein anderer auf seinen Befehl hin vergewaltigte. Auf seine eigene Gemahlin habe er einen seiner Vertrauten angesetzt, um sie zum Ehebruch zu verführen. Hierbei wollte sie der König in flagranti ertappen, um sie verstoßen oder sogar töten zu können.
Solche und andere Geschichten setzen Autoren als allgemein bekannt voraus. Doch sind die Vorwürfe gegen den König keineswegs auf sexuelle Untaten beschränkt. Sie betreffen gleichermaßen Verstöße gegen Amtspflichten und prangern politisches Fehlverhalten an. Er habe die Beratung politischer Entscheidungen mit den Großen verweigert und sich statt dessen mit Leuten niedriger Herkunft umgeben, habe Burgen zur Unterdrückkung der Sachsen errichtet, unrechtmäßige Abgaben erhoben und den Adel ausrotten wollen. Dieses und vieles mehr bringt ein vielstimmiger Chor zeitgenössischer Autoren gegen Heinrich vor und läßt damit zumindest auf das politische Klima schließen, in dem sich die Widerstände gegen ihn formierten. Das Ausmaß der Erbitterung seiner Gegner war in jedem Fall beträchtlich. Viele waren überzeugt, daß Heinrich tyrannisch regierte.
In der modernen Forschung hat die Empörung der Zeitgenossen nicht viel Verständnis gefunden. Man hat die Vorwürfe vielmehr als unbewiesen und unbeweisbar zur Seite geschoben. Getreu der Devise, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, hat man den König vor denen in Schutz genommen, die als „Totengräber der Königsmacht“ galten: die gregorianische Papstkirche und die deutschen Fürsten mit ihren Partikularinteressen. Nun ist in der Tat heute kaum noch zu entscheiden, was an den Vorwürfen stimmt und was nicht. Man kann aber unabhängig davon die Frage stellen, welchen Stellenwert die Vorwürfe denn bei der Formierung des Widerstands gegen den König hatten; ob es Gerüchte und Verleumdungen waren, die man hinter vorgehaltener Hand erzählte, oder Argumente, die in den politischen Diskursen in dem Bewußtsein vorgebracht wurden, so tatsächliche Verhaltensweisen des Königs zu beschreiben. Letzteres war in der Tat der Fall.
Man muß sich nur vergegenwärtigen, welche Wege und Verfahren der Herrschaftsverband im Mittelalter praktizierte, um sich gegen als Unrecht empfundene Handlungen und Verhaltensweisen eines Herrschers zur Wehr zu setzen. Dies geschah durch geheime oder offene Treffen und Beratungen (conventicula, conspirationes und colloquia), bei denen Einvernehmen über die Beurteilung der herrscherlichen Handlungen erzielt und Maßnahmen gegen sie beschlossen wurden. Im Regelfall führte in solchen Fällen die Einsicht, der Herrscher tue Unrecht, zu einer Schwureinung (coniuratio) mit dem Ziel, ihn notfalls auch mit Gewalt zu einer Änderung seines Verhaltens zu zwingen.
Von solchen Aktivitäten ist gerade in den Anfangsjahren der Regierung Heinrichs IV. immer wieder die Rede. Es trafen sich Gegner Heinrichs untereinander; sie trafen sich aber auch mit seinen Anhängern, um diese von der Rechtmäßigkeit ihrer Vorwürfe zu überzeugen und sie so auf ihre Seite zu ziehen. Einige Male ist konkret bezeugt, was bei solchen Treffen verhandelt wurde, welche Vorwürfe zur Sprache kamen. Und hier zeigt sich, daß bei solchen Beratungen offensichtlich die ganze Palette der Vorwürfe auf den Prüfstand kam, die in der modernen Forschung als unbeweisbare Gerüchte abgetan werden.
Prof. Dr. Gerd Althoff