Seit wann bedeutet Ihnen Georg Simmel etwas?
Aladin El-Mafaalani: Seit meiner Studienzeit. In einem Seminar über Migration war ich zufällig für ein Referat über einen Text von Simmel vorgesehen: „Exkurs über den Fremden“. Das hat dazu geführt, dass ich dann während des Studiums mehr von Simmel gelesen habe als von allen anderen Soziologen.
Was steht in dem „Exkurs“?
Ein Kerngedanke ist: Man wird als Fremder wahrgenommen, wenn man kommt und bleibt. Nicht, wenn man kommt und wieder geht. Das ist ein zentraler Punkt, der für die ganze spätere Migrationsforschung eine Rolle spielt.
Was beeindruckt Sie so besonders?
Unter den großen Soziologen ist Georg Simmel einzigartig. Er schreibt sehr frei, manchmal fast literarisch. Er entwickelt keine große Theorie. Er zieht unterschiedliche Disziplinen heran – Ökonomie, Geschichte oder Psychologie –, um die Instrumente für die Analyse jeweils eines Phänomens zu gewinnen. Dabei differenziert er stets zwischen der Form der Kommunikation zwischen Menschen und dem Inhalt. Der Inhalt ist ihm relativ egal. Damit wird er zum Begründer der „formalen Soziologie“, indem er auf abstrakter Ebene versucht, das Grundgerüst gesellschaftlicher Zusammenhänge darzustellen.
Haben Sie persönlich von ihm gelernt?
Absolut. Ähnlich wie bei Simmel ist es gar nicht so einfach, mich einer Disziplin zuzuordnen. Ich habe jetzt einen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft. Davor hatte ich eine Professur für Politikwissenschaft. Ich mache Migrationsforschung, stark inspiriert durch ihn. Ich mache Stadtforschung – die Stadtsoziologie ist ohne Georg Simmel gar nicht denkbar. Streit- und Konfliktforschung sind sehr zentrale Themen für mich, und auch da hat Georg Simmel den Grundstein gelegt. Er war der erste Sozialwissenschaftler, der Formen und Funktionen des Streits als Grundkategorie für das Verständnis einer Gesellschaft erkannt hat.
Eine facettenreiche Forscherpersönlichkeit – was ist für Sie der interessanteste Aspekt?
Für mich am spannendsten sind seine Analysen zum Streit. Er betont, dass die Voraussetzung jedes Streits eine Gemeinsamkeit der Streitenden ist. Ganz häufig – und gerade in modernen Gesellschaften – hat Streit damit zu tun, dass man sich näherkommt, vielleicht zu nahe.
Er war als Jude damals ein akademischer Außenseiter …
Er wäre sonst vielleicht nicht so vielseitig gewesen. Er war Privatdozent. Sein Haupteinkommen bestand darin, dass er einen Hut neben sein Pult stellte, in den die Studenten ein Trinkgeld legen konnten. Er musste also bei der Themenwahl immer an das Publikum denken. Als Einziger in Berlin hatte er in einem vollen Hörsaal und auch regelmäßig einen gut gefüllten Hut.
Interview: Dr. Winfried Dolderer
Aladin El-Mafaalani geb. 1978, deutscher Soziologe und Migrationsforscher. Professor an der Fachhochschule Münster (2013 – 2018), Koordinator der Integrationspolitik in Nordrhein-Westfalen (2018/19), seither Professor in Osnabrück. Werke unter anderen „Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt“ (2018).
Georg Simmel (1858 –1918), deutscher Philosoph und Soziologe. Promotion und Habilitation über Aspekte der Philosophie Immanuel Kants. Seit 1885 Privatdozent, seit 1900 unbezahlter außerordentlicher Professor in Berlin. 1914 ordentlicher Professor in Straßburg. 1909 Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.