Zwei Tage lag der Tote vor den Mauern Nancys im Schmutz, nackt und der Symbole seines Rangs entkleidet. Der beraubte Leichnam war der Kälte und den Hunden preisgegeben; von schrecklichen Wunden gezeichnet, konnte man ihn kaum erkennen. Ein Page, sein Arzt, der Geschichtsschreiber Olivier de la Marche und andere identifizierten ihn aufgrund besonderer Kennzeichen: zwei Narben, das Gebiss, ein Abszess und die langen Fingernägel – solche Details enthüllten die Person eines der einst strahlendsten Fürsten Europas.
Wenn es heißt, dass Herzog Karl der Kühne von Burgund (1467–1477), von dem hier die Rede ist, mit seinem Tod mehr bewegte als mit seiner Politik zu Lebzeiten, dann ist damit nicht sein ruhmloses Ende gemeint. Sicher bot dieser Tod Raum für moralisierende Deutungen, gilt der letzte burgundische Herzog aus der Familie der Valois doch für gewöhnlich als ein Modell des höfischen Prunks. Zugleich ist sein Bild aber auch von den militärischen Niederlagen im letzten Lebensjahr geprägt. In drei Schlachten unterlag Karl seinen Gegnern und fiel schließlich am 5. Januar 1477 vor den Toren Nancys. Die Eidgenossen, deren entstehendes Nationalbewusstsein hier reiche Nahrung fand, spielten dabei eine besondere Rolle. Sie waren es, die im Sinne ihrer eigenen Politik gegen ihn antraten (vor Grandson und Murten), aber auch als Söldner und Hilfstruppen ihrer Alliierten. Ihnen verdankte Herzog René II. von Lothringen im Jahr 1477 die erfolgreiche Abwehr der letzten Attacke des „Kühnen“.
Nicht zuletzt dieser Beiname zeigt Karls zwiespältigen Ruf: ambitioniert und kühn, ja. Zugleich aber galt (und gilt) er als aufbrausend und unfähig, seine eigenen Grenzen zu erkennen. So sei er letztlich an seinen Zielen gescheitert, die mit dem Streben nach einer Königskrone, vielleicht sogar dem Kaisertitel, zu hoch griffen. Im Rückblick mag man daher die Kritik des Basler Chronisten Johannes Knebel teilen, der wie viele andere den Tod Karls als Befreiung von einem Tyrannen feierte. Schuld sei der Herzog selbst gewesen, der die Geschichte seines Helden, des großen Alexander, nicht richtig gelesen habe, hätte er doch sonst auch um das bittere Ende des antiken Heros gewusst, mit dem er sich so gern identifizierte.
Karl deswegen einen „pathologischen“ Charakter zu bescheinigen, wie es zuweilen geschieht, greift aber zu kurz. Vielmehr muss man seine Herkunft mit bedenken, die Rolle, die er einzunehmen hatte, und die Möglichkeiten, die ihm daraus erwuchsen. Seine Familie war kein Neuankömmling auf der politischen Bühne. Der Urgroßvater, Philipp der Kühne, war einst vom französischen König Johann dem Guten (1350 –1364) als dessen jüngster und „liebster“ Sohn mit dem Herzogtum Burgund begabt worden. Sein Aufstieg zum höchsten der Pairs de France wurde begleitet von einer vorteilhaften Ehe mit der Erbtochter des Grafen von Flandern, die Philipps Herrschaft bald um reiche Gebiete im Norden erweiterte. Er wurde zum Herrn über eine der wirtschaftlich mächtigsten Regionen Europas, ohne seinen Einfluss auf den französischen Königshof zu verlieren. Dort spielte er eine bedeutende Rolle im Vormundschaftsrat für seinen Neffen Karl VI., der erst während seiner Minderjährigkeit und dann seit 1392 aufgrund einer psychischen Erkrankung einen Regierungsrat benötigte. Das Ringen um Einfluss auf den König schlug nach Philipps Tod und der Nachfolge seines Sohnes Johann Ohnefurcht als Herzog 1404 in einen offenen Konflikt um, der in einen Bürgerkrieg mündete. Johann ließ 1407 seinen wichtigsten Gegner, den Königsbruder Ludwig von Orléans, ermorden, und in den folgenden Jahren kämpften Burgunder gegen Armagnaken (benannt nach dem Schwiegervater von Ludwigs Erbsohn). Zur inneren Zerrissenheit kam der Krieg gegen England, da König Heinrich V. eine neue Phase des sogenannten Hundertjährigen Krieges einläutete und bei Azincourt 1415 ein französisches Adelsheer vernichtend schlug. Diese Schlacht und die Ermordung Johanns durch Parteigänger des Dauphins, des späteren Königs Karl VII., bei Montereau-Fault-Yonne (Île-de-France) im Jahr 1419 markieren wichtige Etappen der politischen Entwicklung im Hintergrund des burgundischen Aufstiegs…
Literatur Werner Paravicini, Karl der Kühne. Das Ende des Hauses Burgund. Göttingen 1976. Henri Dubois, Charles le Téméraire. Paris 2004. Richard Vaughan, Charles the Bold. The Last Valois Duke of Burgundy. Woodbridge 2002. Hermann Kamp, Burgund. Geschichte und Kultur. München 2007. Petra Ehm, Burgund und das Reich. Spätmittelalterliche Außenpolitik am Beispiel der Regierung Karls des Kühnen (1465 –1477). München 2002.
Ausstellung Karl der Kühne (1433–1477) Historisches Museum Bern 25. April – 24. August 2008 Groeningemuseum Brügge 27. März – 21. Juli 2009
Die Ausstellung zeigt herausragende Kunstwerke der burgundischen Hofkultur: feinste Goldschmiedekunst, luxuriöse Gewebe und Stickereien, kostbare Buchmalerei, Tafelgemälde, Prunkrüstungen, Juwelen, Medaillen … Mit moderner Ausstellungstechnik wird das dramatische Leben Karls nacherzählt. Zu den herausragenden Exponaten gehören ein Altar-retabel (1484) von Hans Memling, das als ein Hauptwerk der alt-niederländischen Malerei gilt, und der sogenannte Tausendblumenteppich (um 1466, Ausschnitt oben), die prunkvollste aller Millefleurs-Tapisserien, ein Teil der Burgunderbeute.
Der Begleitband zur Ausstellung erscheint auf Deutsch, Französisch, Englisch und Niederländisch im Verlag Neue Zürcher Zeitung und im Belser Verlag (Stuttgart).
Gemeinsam mit Prof. Dr. Rainer C. Schwinges veranstaltet Dr. Klaus Oschema in Bern eine internationale Tagung zu Karl dem Kühnen (1.–3. Mai 2008).
http://www.karlderkuehne.org http://www.mittelalter.hist.unibe.ch
Dr. Klaus Oschema