Wie ist sie Ihnen aufgefallen?
Susanne Betancor: Ich glaube, es war im Oktober 2016, da habe ich ein Konzert mit ihrer Musik im Radio gehört. Das war für mich eine wirkliche Offenbarung. Das war das Beste, was ich seit langem gehört hatte.
Was zeichnet diese Musik aus?
Es ist das enorm Energetische. Die starke, prägnante Rhythmik, die wirklich „groovt“, um einen Begriff aus dem Jazz zu benutzen. Diese Musik hat für mich sehr viel vom Jazz. Der Rhythmus und die Melodien, die sich eingraben, nicht einfach einprägen, sondern geradezu eintätowieren.
Sie haben sich dann mit ihrer Biographie beschäftigt?
Man findet ja – zum Glück, muss man sagen – nicht so viel über sie, und das, was man findet, soll eigentlich abschrecken.
Warum zum Glück?
Weil sie großen Wert darauf legte, ihre Privatsphäre zu schützen. Sie war ein sehr scheuer Mensch, fast eine Eremitin in ihrer Einzimmerwohnung in Sankt Petersburg. Sie ist so gut wie nie gereist. Ein Solitär war sie sowieso, denn zu ihrem musikalischen Werk kenne zumindest ich keine Vergleiche. Es ist diese ganz strenge und trotzdem leichte Rhythmik – man kann sagen: akkurat, in Verbindung mit einer gewissen melodischen Kargheit.
Haben Sie von ihr gelernt?
Auf jeden Fall. Es war eine seltsame Koinzidenz. Meine Bekanntschaft mit Galina Ustwolskaja fiel zusammen mit meiner Bühnenpause und einem Ergänzungsstudiengang „Zeitgenössische Komposition“, den ich bei Dieter Ammann in der Schweiz belegt hatte. Also, ich höre Galina Ustwolskaja, studiere noch mal und erlebe, dass meine eigene Kompositionstechnik von Ustwolskaja inspiriert wird, ich bei ihr Anleihen tätige. Ich habe mir Sachen ausgeliehen und nicht wieder zurückgegeben.
Ustwolskaja ist außerhalb Russlands kaum bekannt, anders als ihr Lehrer Dmitri Schostakowitsch – warum?
Vielleicht, weil sie eine Frau war. Möglicherweise auch, weil sie so scheu und misstrauisch war und ihr Werk gehütet hat wie ihren Augapfel. Sie war sehr streng, mitunter gnadenlos mit sich selbst, hatte enorme Ansprüche an sich. Diesen Maßstab legte sie auch an alle anderen an. Es heißt ja, Schostakowitsch habe sie mehr bewundert als sie ihn.
Ihr Œuvre ist erstaunlich schmal …
Es umfasst 25 Werke. Die haben ihr gnadenloses Aussieben überdauert. Was ihren Ansprüchen schließlich nicht mehr genügte, darunter auch Kompositionen, die sie nur geschrieben hatte, um Geld zu verdienen, hat sie weggeworfen.
Ihr Verhältnis zur kommunistischen Obrigkeit?
Einiges von ihr wurde verboten oder nicht gespielt. Dann verhungert man als Künstlerin. Das Jahrhundert, in dem sie lebte, war das schrecklichste der russischen Geschichte. Überall Verfolgung und Drangsal.
Interview: Dr. Winfried Dolderer
Susanne Betancor geb. 1964, deutsche Sängerin, Komponistin, Autorin. Seit 1986 freie Künstlerin (Selbstbezeichnung „Popette“). Ausgezeichnet unter anderem mit dem Deutschen Kleinkunstpreis in der Kategorie Chanson (1998).
Galina Iwanowna Ustwolskaja (1919 – 2006), russische Komponistin. Seit 1937 Studentin, von 1947 bis 1975 Lehrerin am Rimski-Korsakow-Konservatorium in Leningrad. Die extrem scheue Künstlerin (Jugendbildnis mit einigen ihrer Werke) gilt als bedeutendste Komponistin Russlands im 20. Jahrhundert.