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„Schlüsselfigur auf dem Weg in die Moderne“

Faszinierende Figuren: Chris Dercon über Jean Siméon Chardin

„Schlüsselfigur auf dem Weg in die Moderne“
Persönlichkeiten aus Kultur, Politik und Wissenschaft sprechen über historische Gestalten, die sie beeindruckt haben. In dieser Ausgabe: der Kulturmanager Chris Dercon über den französischen Maler Jean Siméon Chardin.

Wie sind Sie auf Chardin gekommen?

Chris Dercon: Er ist in Paris einer meiner Nachbarn. Ich lebe im Marais, und dort gibt es ein „Jagd- und Naturkundemuseum“, das wunderbare Gemälde von Chardin beherbergt – tote Hasen, Stillleben, Küchenszenen. Meine erste Begegnung mit ihm datiert aber schon aus dem Jahr 1979. Damals besuchte ich als Student eine Chardin-Ausstellung im Pariser Grand Palais. Ich habe mich da total in ein bestimmtes Gemälde verliebt, das er 1761 gemalt hat, „Der Erdbeerkorb“.

Was hat Sie so fasziniert?

Chardin ist der Maler der normalen, der alltäglichen Dinge. Man könnte sagen: Er lässt weg, was nicht interessant ist. Er ist damit eine Schlüsselfigur auf dem Weg in die Moderne. Bei ihm sieht man reine Formen und reine Farben. Der französische Aufklärer und Enzyklopädist Denis Diderot hat 1737 Bilder Chardins im Pariser Königlichen Salon gesehen und sagte sofort: „Das ist echt.“ Er liebte diese Gemälde, weil er spürte, dass sie etwas Neues darstellten, eine Abkehr von der Nachahmung klassischer Vorbilder, von konventioneller, nur virtuoser Eleganz.

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Mit welchen europäischen Malern wäre Chardin zu vergleichen?

Natürlich mit den flämischen und holländischen Meistern. Obwohl bei denen immer noch die Nachahmung klassischer Vorbilder, die Inszenierung von Geschichten im Vordergrund steht. Hier und da spürt man in Chardin schon Elemente von Manet, von Cézanne. Auf dem Gemälde, das ich so liebe, „Der Erdbeerkorb“, sieht man ein Glas Wasser, zwei Blumen, zwei Kirschen, einen Pfirsich, einen einfachen Holztisch und diesen phänomenalen Berg roter Waldfrüchte. Das Glas Wasser ist wie eine Abstraktion. Der Berg roter Früchte ist wie eine Wolke von Gerhard Richter. Ich habe 1979 im Grand Palais eine Ansichtskarte dieses Gemäldes erstanden, die mich über alle Stationen meines Lebens begleitet hat und jetzt wieder mit mir in Paris ist.

Er hat Paris nie verlassen und besaß auch keine formale Ausbildung – ein Sonderfall?

Er genoss zwar die Protektion König Ludwigs XV., hatte eine Wohnung im Louvre und stellte in den öffentlichen Salons aus. Aber seine Künstlerkollegen sahen ein wenig auf ihn herab. Sie fanden seine Werke zu simpel, nicht anspruchsvoll genug.

War er in seiner Zeit erfolgreich?

Die Zeitgenossen spürten, dass er etwas Besonderes war. Sein eigentlicher Erfolg kam viel später, als die französischen Impressionisten ihn wiederentdeckten. Marcel Proust sagte damals, er habe der Schönheit des Lebens eine Form gegeben.


Interview: Dr. Winfried Dolderer

Chris Dercon geb. 1958, belgischer Kunsthistoriker und Kulturmanager. Leitet seit 2019 das „Grand Palais“ in Paris. 2017/18 Intendant der Berliner Volksbühne. 2003 bis 2011 Direktor des Hauses der Kunst (München), bis 2016 der Tate Gallery (London).

Jean Siméon Chardin (1699 –1779), französischer Maler von Stillleben und Genrebildern. Seit 1724 Mitglied der Pariser Malerzunft. 1743 „Ratsherr“ und seit 1755 Schatzmeister der Königlichen Akademie der Schönen Künste. Werke unter anderem „Der Erdbeerkorb“ (Privatbesitz), „Die Wäscherin“ (Eremitage), „Der Silberbecher“ (Louvre).

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