Wie sind Sie auf ihn gekommen?
Adolf Muschg: Auf der Suche nach einem adäquaten Menschenbild für mein Verständnis der Welt und für mich selbst. Da bin ich auf Burckhardt gestoßen. Über den Menschen erfahre ich am meisten von ihm, aus jedem seiner Sätze. Er ist mir wichtiger als die großen Neubegründer der Anthropologie – als Hegel, Marx, Freud, Darwin.
Warum?
Seine mir wichtigsten Werke, die „Griechische Kulturgeschichte“ und die „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“, lagen nie in fertiger Form vor. Das waren Vorlesungsmanuskripte, an denen er ununterbrochen weitergearbeitet hat. So offenbaren sie den tendenziell unendlichen Prozess, den er dem Thema und das Thema ihm gemacht hat.
Was ist ein solches Thema?
In den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ prägt er den Begriff der drei „Potenzen“, die für jede menschliche Gesellschaft von der Steinzeit bis zur Postmoderne maßgeblich seien: das Bedürfnis nach einer guten Ordnung des Lebens, die er „Staat“ nennt; nach einem guten Sinn des Lebens, für ihn „Religion“; schließlich der Drang nach Freiheit, von diesen beiden autoritär gestimmten Potenzen auch wegzukommen, das nennt er „Kultur“. Wenn man sieht, wie widersprüchlich in der Geschichte und beim einzelnen Menschen diese Grundbedürfnisse sind, gewinnt man Toleranz und Duldung gegenüber der anderen Meinung.
Was unterschied Burckhardt von anderen Historikern seiner Zeit?
Die unfertige Anthropologie, die höhere Ahnungslosigkeit bei allergrößter Intelligenz und Sensibilität. Dass von ihm dieses Licht ausging, hat besonders Nietzsche gespürt. Die beiden waren ja als Charaktere unvereinbar, aber jeder hat vom anderen gewusst, dass er das verkörperte, was ihm selber fehlte.
Burckhardts Hauptwerk, die „Kultur der Renaissance in Italien“ von 1860, haben Sie gar nicht genannt …
Dies kann man als fertiges Werk genießen. Er hat hier ein Bild geliefert, das einem eingeht und das man nicht vergisst. In seinem postumen Werk – dazu gehören die beiden oben genannten Titel – findet man beides: die Kunstfertigkeit, ein vollendetes Bild zu malen, und Burckhardts eigene Vorbehalte gegen diese Kunstfertigkeit. Das ist mir wichtiger. Er zeigt, wie man malt, was einem dabei die Hand bewegt, wo man wieder tilgen muss, was überholt ist, oder abwarten, bis es sich verifiziert. Diesen Prozess sehe ich bei Burckhardt und stelle mir vor, dass dazu ein Hörsaal gehörte, das Gespräch von Mensch zu Mensch.
Er hat nach 1860 nur noch für die Schublade geschrieben. Warum?
Weil er seine Gedanken mit einem Auditorium im Gespräch ausprobiert hat. Dabei sind ihm wundervolle Sätze gelungen, die freilich nur darauf warten, falsifiziert zu werden. An Burckhardt gefällt mir seine Schamhaftigkeit gegenüber raschen Schlüssen. Er sucht sofort einen Gegenbeweis.
Interview: Dr. Winfried Dolderer
Adolf Muschg geb. 1934, Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Hochschullehrer unter anderem in Göttingen, Japan, in den USA. 1970 bis 1999 Professor für deutsche Sprache und Literatur in Zürich. Seit 1976 Mitglied, 2003 bis 2005 Präsident der Berliner Akademie der Künste.
Jacob Burckhardt (1818 –1897), Schweizer Kulturhistoriker. 1845 außerordentlicher Professor, 1855 bis 1858 Lehrstuhlinhaber für Kunstgeschichte in Zürich, anschließend bis 1893 für Geschichte und Kunstgeschichte in Basel. Zu seinen wichtigen Werken zählen „Die Kultur der Re naissance in Italien“ (1860) und „Weltgeschichtliche Betrachtungen“ (1905).