Nach grandiosen Erfolgen zu Beginn gerieten die christlichen Eroberer des Heiligen Landes rasch in die Defensive. Ihre Herrschaften entwickelten sich nicht zu Stätten des Kulturtransfers. Dauernd blieben die Außenposten abendländischen Sendungsbewußtseins auf Unterstützung angewiesen, auf Zuwanderung, Pilger, materiellen wie ideellen Transfer. Trotz einiger Erschöpfungsphasen, die manche mit Frieden oder Sicherheit verwechselten, hielten beständig aufflammende Konfrontationen die Welt am östlichen Mittelmeer in Atem. In den schwierigen Etappen des aktuellen christlich-muslimischen Dialogs wird das Heilige Land des Hochmittelalters gern zum Laboratorium der Begegnungen stilisiert, nur zeitweise un?terbrochen von Eruptionen unvernünftiger Gewalt. Doch im 12. und 13. Jahrhundert gab es kaum ein friedliches Zusammenleben oder die Chance religiöser Toleranz. Wer immer sich überlegen fühlte, schlug erbarmungslos zu.
Seit 1187 wurden die Katastrophen zur Regel: die Niederlage bei Hattin gegen Sultan Saladin, der Verlust des Heiligen Kreuzes, der Fall Jerusalems. Im Abend- wie im Morgenland mußten die lateinischen Christen lernen, solche unfaßbaren Katastrophen zu erklären. Dies hatte zuvor noch ganz anders ausgesehen: Seit die muslimische Expansion im 7. Jahrhundert gestoppt worden war, war das Christentum von Fortschrittsoptimismus geprägt: Schritt für Schritt sollte das Heidentum in Europa überwunden werden. Ein Großteil des Kontinents richtete sich auf die römische Kirche aus. Zuversichtlich notierten Chronisten, daß die Heilsgeschichte bald ihre Erfüllung finden und die ewige Sabbatruhe ausbrechen werde.
Dieses religiöse Sendungsbewußtsein zerbrach in den Niederlagen der Kreuzfahrer. Die heiligen Stätten schienen ferner als je zuvor. Nur für kurze Zeit gelang noch einmal der Zugang, als Kaiser Friedrich II. in Verhandlungen 1229 die friedliche Übergabe von Jerusalem, Nazareth und Bethlehem erreichte. 15 Jahre später ging Jerusalem den Christen endgültig verloren. Dann büßten sie einen Stützpunkt nach dem anderen ein. Sultan Baibars siegte in vielen Schlachten über die Kreuzfahrer und schuf die Basis für ihre endgültige Vertreibung aus Palästina. Bei seinem Tod war die christliche Herrschaft auf eine schmale Küstenlinie zwischen der auch als „Pilgerschloß“ bezeichneten Burg Athlit unweit des Berges Karmel im Süden und Latakia im Norden beschränkt.
Die beiden Kreuzzüge König Ludwigs IX. von Frankreich 1248 bis 1254 bzw. 1270 nach Ägypten und Tunis hatten den Kreuzfahrern keine Atempause gebracht. Vielmehr war ihre militärische Unterlegenheit aller Welt klar vor Augen geführt worden. In ihren letzten Küstenstätten am östlichen Mittelmeer blieben sie weitgehend auf sich gestellt, nur noch aus Zypern und durch italienische Schiffe gestützt. Europäische Herrscher brachen im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts nicht mehr in den Osten auf.
Trotz der Bedrohung schwächten dynastische Rivalitäten und politische Feindschaften die christliche Abwehrbereitschaft. 1264 setzte sich Hugo von Antiochia-Lusignan im Wettbewerb um die Regentschaft des lateinischen Königreichs Jerusalem durch. 1267 wurde er König von Zypern. Ein Jahr später – nach dem Tod des letzten Staufers Konradin, der nominell König von Jerusalem gewesen war – stieg er als Hugo I. selbst in dieses Amt auf. Die Nachricht von Konradins Hinrichtung auf dem Marktplatz von Neapel führte in Akkon zu einem glänzenden Fest mit Feuerwerk und Illuminationen.
Die Staufer, zumal Konradins Großvater Kaiser Friedrich II., waren den Päpsten und ihren Anhängern seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts ein „Geschlecht der Verfolger“ geblieben. So fielen die Schatten des alten Kampfs zwischen Kaiser- und Papsttum auch auf den lateinischen Osten, der die Erinnerung an den ersehnten Friedenskaiser Friedrich II. bald vergessen hatte. Dynastischer Streit spaltete im Angesicht muslimischer Siegeszüge die Geschlossenheit der adligen Cliquen. Manche hielten zu König Hugo, andere bevorzugten bis 1285 Karl von Anjou, König von Sizilien und Bruder des französischen Herrschers. Der eine oder andere Herr schloß sogar individuelle Waffenstillstände mit den Muslimen ab oder spielte seine Glaubensbrüder gegeneinander aus.
Im letzten Vierteljahrhundert vor dem Ende der verbliebenen christlichen Herrschaft im Nahen Osten pendelten König Hugo und sein Nachfolger Heinrich (1285–1291) zwischen der sicheren Insel Zypern und dem bedrohten Küstenstreifen in Palästina hin und her. Als Heinrich 1286 in Akkon seine Herrschaft antrat, ließ ein glanzvolles Hoffest alle Verzweiflung für kurze Zeit vergessen – eine programmatische Aufführung ritterlicher Kultur des Westens als bewußtes Gegenbild zur lauernden Endzeit: „Sie feierten 14 Tage lang in Akkon an einem Ort, der die Herberge des Sankt-Johannes-Spitals heißt und wo sich ein großer Palast befand. Es war an Belustigungen und Turnieren das schönste Fest seit hundert Jahren. Sie ahmten die Tafelrunde nach und die Königin der Weiblichkeit, das heißt: Ritter, als Damen verkleidet, kämpften miteinander; dann äfften sie Nonnen nach, die mit Mönchen zusammen waren, und so verkleidet brachen sie Lanzen gegeneinander und ahmten Lanzelot, Tristan und Palamedes nach und veranstalteten noch viele andere ergötzliche und lustige Spiele.“
Die Artus-Welt sollte die Feinde für eine Weile vergessen machen. Grotesker sind die Gegenwelten kaum vorzustellen: bewaffnete Muslime in Sichtweite, verkleidete Ritter als Darsteller von Liebesspielen zwischen Mönchen und Nonnen. Solche Schauspiele im Untergang sind nicht einmalig. Unwillkürlich drängen sich Vergleiche auf, die letzten Tage Roms im 5. Jahrhundert, Konstantinopel 1453, der Berliner Führerbunker 1945. Im Angesicht des Grauens feierte man noch einmal die eigene Vergangenheit, Turniere und Lustbarkeiten, Lanzelot und Tristan. So warf das ferne Abendland weite Schatten auf seine Ausleger am Strand des östlichen Mittelmeers.
Prof. Dr. Bernd Schneidmüller