Im Oktober 1918 stand die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg fest. Viele Deutsche glaubten, in Unkenntnis dessen, was das 20. Jahrhundert noch an Katastrophen für sie bereithielt, dies sei die schwärzeste Stunde ihrer Geschichte. Wut und Erbitterung entluden sich über den politischen Führern und besonders über dem obersten Repräsentanten des Staates, Kaiser Wilhelm II. So schrieb Admiral Hopmann am 6. Oktober 1918: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Was Deutschland in den letzten drei Jahrzehnten gesündigt hat, muß es büßen. Es war politisch erstarrt durch das blinde Vertrauen, die sklavische Unterordnung unter den Willen eines in Eitelkeit und Selbstüberschätzung strotzenden Narren.“
Tatsächlich ist das historische Urteil über den letzten deutschen Kaiser unauflöslich verbunden mit dem katastrophalen Abschluß seiner Regierung. Er schien vielen, auch den alliierten Mächten, der Hauptverantwortliche am Weltkrieg zu sein. Wilhelm stritt zwar stets konsequent ab, den Krieg gewollt zu haben, und hatte subjektiv – allerdings nur subjektiv – recht. Aber über den Vorwurf hätte er sich trotzdem nicht beklagen dürfen, denn über 30 Jahre hatte er die Vorstellung, er sei in Deutschland der politisch Haupt-, ja praktisch Alleinverantwortliche, systematisch kultiviert. Unzählig sind die Äußerungen, mit denen er seinen Durchsetzungswillen dokumentierte: Er habe die Verfassung niemals gelesen, sagte er mehrfach; oder auch: „Sic volo, sic jubeo“ (So will ich es, so befehle ich es!). So entstand der Eindruck, das wilhelminische Deutschland sei ein absolutistisch regierter Staat gewesen.
Wilhelm II. hatte den Schwerpunkt seiner Aufgabe als Deutscher Kaiser in der Außen- und Militärpolitik gesehen, und hier wirkte sich seine Regierungszeit am gravierendsten aus. Die Liste seiner Einflußnahmen auf die deutsche Außenpolitik ist lang: Sie enthält, unter anderem, die Entlassung Bismarcks 1890; die Nicht-Verlängerung des Rückversicherungsvertrags mit Rußland unmittelbar danach; die deutsche Kolonial- und Weltpolitik; den 1898 beginnenden Schlachtflottenbau; die Krüger-Depesche von 1898; die kaiserlichen Orient-Reisen und die „Hunnenrede“; die deutsche Bündnispolitik zwischen 1888 und 1914; die deutsche Haltung zu den Abrüstungsverhandlungen in Den Haag; die Landung in Tanger, die die erste Marokko-Krise auslöste, sowie unzählige Staatsbesuche und Reden. Hier soll nur an wenigen Beispielen gezeigt werden, wie die Einflußnahmen Wilhelms II. auf die Außenpolitik abliefen.
Zunächst: Zwischen dem von Wilhelm erzeugten Bild des Selbstherrschers und der machtpolitischen Realität klaffte ein Gegensatz. Es gab frühzeitig, schon vor seinem Regierungsantritt, vor allem in seiner engen Umgebung massive Zweifel, ob hinter den absolutistischen Deklamationen die Fähigkeit stand, ihnen auch Taten folgen zu lassen. Denn der Kaiser zeichnete sich durch eine frappante Oberflächlichkeit und Sprunghaftigkeit aus. Bismarck stellte einmal mißbilligend fest, Wilhelm II. habe zwar zu allem eine Meinung, aber eine täglich wechselnde.
Seine Umgebung bezeichnete den Kaiser als „Ballon“, der sich von den wechselnden politischen Winden und Moden treiben lasse. Der Monarch wollte heute mit England gegen Rußland, morgen mit Rußland gegen England, übermorgen mit England gegen Japan ziehen; er trat heute als Schutzherr der Unterschichten auf und befahl morgen seiner Garde, auf streikende Arbeiter zu schießen; er wollte heute der Welt den Frie-den bringen und gab sich morgen in der Tradition seiner preußischen Ahnen als Soldatenkaiser und Kriegsherr. Geheimrat von Holstein, die Graue Eminenz des Auswärtigen Amtes, klagte charakteristischerweise einmal: „Das ist also das dritte auswärtig-politische Programm in sechs Monaten.“ Zu diesen Schwankungen nicht nur der Stimmungen, sondern auch der Ansichten kam die Neigung „Wilhelms des Plötzlichen“ zu Augenblicksentscheidungen. Freiherr Marschall von Bieberstein, Staatssekretär des Äußeren von 1890 bis 1897, faßte dies so zusammen: „Ein Monarch muß das letzte Wort sprechen, S. M. will aber immer das erste haben, dies ist ein Kardinalfehler.“
Anders als der von ihm entlassene Bismarck war Wilhelm II. weder intellektuell noch charakterlich in der Lage, die Außenpolitik einer europäischen Großmacht persönlich zu kontrollieren. Allerdings besaß er den unbedingten Wunsch und die Fähigkeit, die Dinge auf sich zu zentrieren, nach außen als die alles entscheidende Führungsfigur zu erscheinen. Und doch war ihm in klaren Augenblicken bewußt, daß dies eine bewußt erzeugte Vorstellung war und daß die wahre Arbeit andere erledigten. Ihm war es aber genug, wie er in einem resignativen Moment gegen Ende seiner Regierungszeit eingestand, wenn „nach außen hin die Fiktion, daß ich alles persönlich anordne“, gewahrt wurde…
Dr. Holger Afflerbach