Wer Albert Einstein (1879–1955) heute weiterdenken möchte, sollte den Pazifisten zunächst aus seiner Zeit heraus zu verstehen versuchen. Einstein lebte weder im Elfenbeinturm der Wissenschaften noch in friedlichen Zeiten, sondern im „Zeitalter der Extreme“, wie der britische Historiker Eric Hobsbawm formulierte. Dieses sah zwei Weltkriege, Diktaturen, den Holocaust und die ersten Atomwaffeneinsätze. Die politischen Überzeugungen Einsteins können nur vor diesem Hintergrund angemessen verstanden werden.
In den Jahren der ersten deutschen Republik engagierte sich Einstein für den Völkerbund und eine Politik der Verständigung. Mehrfach nahm er an Großkundgebungen der „Nie wieder Krieg!“-Bewegung teil. Es wird berichtet, wie Carl von Ossietzky in den frühen 20er Jahren mit ihm im Auto umherfuhr und man dem großen Gelehrten und Friedensprediger zu‧jubelte. Seit 1928 hielt Einstein die Kriegsdienstverweigerung für das geeignetste Mittel, einen Krieg zu verhindern, und trat bei jeder Gelegenheit dafür ein. Der deutsch-amerika-nische Historiker Fritz Stern, ein Bewunderer Einsteins, bemerkte über sein Engagement in den 20er Jahren kritisch: „In der auf Revanche versessenen Zeit zwischen Versailles und Hitler wurde er zum Vertreter eines militanten Pazifismus. Er glaubte so sehr an Frieden und Toleranz, dass er die Kräfte, die diesen Hoffnungen im Wege standen, nur teilweise in Rechnung stellte.“ Einsteins gutgemeinte Ratschläge hätten daher gelegentlich „einer gewissen Wirklichkeitsnähe“ entbehrt.
In einem Punkt war Einstein allerdings realistischer als die meisten anderen Pazifisten: in der Antwort auf die Frage, wie Hitler zu beurteilen sei und wie die Pazifisten sowie die Garantiemächte des Versailler Friedensvertrags auf dessen Regierung reagieren sollten. Hier erwies er sich als ein politischer Mensch, der den zu diesem Zeitpunkt vermutlich einzigen erfolgversprechenden Weg zur Verhinderung eines Krieges aufzeigte. Er erkannte die Kriegsgefahr, die von dem nationalsozialistischen Deutschland ausging, erstaunlich schnell und zögerte nicht, sich auf die neue Lage einzustellen – „umzulernen“, wie er im Juli 1933 sagte. Einstein entsagte dem absoluten Pazifismus, den er zuvor so glühend vertreten hatte, und empfahl den westlichen Regierungen, sich auf einen Angriffskrieg Deutschlands vorzubereiten. Um die Zivilisation und Europa zu retten, müssten die westlichen Demokratien nunmehr bereit und fähig sein, sich militärisch zu verteidigen. Von einer Kriegsdienstverweigerung in den von Hitler-Deutschland bedrohten Ländern riet er unter den geänderten Verhältnissen ausdrücklich ab – dies nütze nur dem potentiellen Aggressor.
Einstein betonte zwar wiederholt, dass sein Positionswechsel vorübergehenden Charakter habe, doch waren nicht wenige seiner Anhänger nachhaltig irritiert. Trotz heftiger persönlicher Angriffe hielt er seinen Kritikern aber entgegen: „Solange Deutschland durch materielle Rüstung und Abrichtung der Bürger systematisch den Revanchekrieg vorbereitet, sind die westeuropäischen Länder leider auf militärische Abwehr angewiesen. Ich behaupte sogar, dass sie, wenn sie klug und vorsichtig sind, nicht warten werden, bis sie angegriffen sind … Dies können sie nur, wenn sie hinreichend gerüstet sind. Dies zu sagen macht mir wenig Freude, denn ich hasse in meinem Herzen Gewalt und Militarismus nicht weniger als je zuvor. Ich kann aber meine Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließen. Wenn Sie einen anderen Weg wissen, wie die frei gebliebenen Länder sich schützen können, so bin ich gerne bereit, von Ihnen zu lernen. Ich aber weiß keinen anderen Ausweg, solange der gegenwärtige bedrohliche Zustand nicht überwunden ist. Wenn es aber andererseits keinen anderen Ausweg gibt, müssen wir so ehrlich sein, es anzuerkennen.“ Im September 1933 klagte Einstein: „Ich kann es nicht fassen, warum die ganze zivilisierte Welt sich nicht zum gemeinsamen Kampf zusammengeschlossen hat, um dieser modernen Barbarei ein Ende zu bereiten. Sieht denn die Welt nicht, dass Hitler uns in einen Krieg hineinzerrt?“ …
Prof. Dr. Wolfram Wette