Die Tradition des christlichen Helden beginnt in der Spätantike, genauer in der Zeit der Christenverfolgungen, die unter Kaiser Nero im Jahr 64 einen ersten spektakulären Höhepunkt fanden und vor allem unter Kaiser Decius (249– 251) systematisch ausgeweitet wurden. Die ersten drei nachchristlichen Jahrhunderte waren in der vollen Bedeutung des Wortes „lebensgefährliche Zeiten“ für die junge Christenheit. Sie hätte daher wohl wenig Verständnis für die Forderung moderner Denker wie Friedrich Nietzsche aufgebracht, der seine Zeitgenossen aufforderte: „Lebt gefährlich! Baut eure Häuser an den Vesuv“. Die „gefährlichen Momente“, die moderne, säkulare Helden so sehr lieben, wenn sie (eher harmlos, weil keinen anderen gefährdend) wie Luis Trenker alpine Gipfel erklimmen oder (eher bedenklich, weil auch andere in tödliche Gefahr bringend) wie Ernst Jünger „in Stahlgewittern“ an der Westfront ausharren, gehörten häufig, wenn auch nicht immer, zum Alltag einer von der römischen Obrigkeit bedrohten Christenheit.
Aber nicht alle Christen waren zum Helden geboren. Angesichts der ihnen angedrohten Folter und eines furchtbaren Sterbens in der Arena, wo Gladiatoren und wilde Tiere auf sie warteten, schworen viele Christen ihrem Glauben ab; den standhaft Gebliebenen galten sie als „Gefallene“. Viele aber erwiesen sich tatsächlich als unerschütterliche Zeugen ihres Christentums und gingen selbstbewusst und aufrecht in den Tod. Deshalb gedenken Christen bis heute ihrer Glaubenshelden und bezeichnen sie zu Recht als „Märtyrer“: ein Wort, das aus dem Griechischen stammt und den „Zeugen“ bezeichnet; ursprünglich verstand das Alte Testament darunter vor allem jene Zeugen, die, wie die Propheten Israels, die Richtigkeit einer Anklage (in diesem Fall die Klage Gottes über sein sündig gewordenes Volk Israel) bezeugten.
Die Einengung des Märtyrer-Begriffs auf den Zeugen, der für seinen Glauben stirbt, zeichnet sich schon im Alten Testament ab. Das zweite Buch der Makkabäer, dessen Redaktion in die Zeit um 30 v. Chr. fällt, wurde zur Grundlage für christliche Glaubenshelden. Es erzählt unter anderem vom heroischen Verhalten des Priesters Eleazar. Nachdem Truppen König Antiochos’ IV. Epiphanes von Syrien (175 –164 v. Chr.) Jeru‧salem besetzt hatten, „sperrte man dem alten Mann [Eleazar] den Mund auf und wollte ihn zwingen, Schweinefleisch zu essen. Er aber zog den ehrenvollen Tod einem Leben voll Schande vor, ging freiwillig auf die Folterbank zu und spuckte das Fleisch wieder aus: ‚Ich will jetzt wie ein Mann sterben und mich so meines Alters würdig zeigen. Der Jugend aber hinterlasse ich ein leuchtendes Beispiel, wie man mutig und mit Haltung für die ehrwürdigen und heiligen Gesetze eines schönen Todes stirbt.‘ Nach diesen Worten ging er geradewegs zur Folterbank … Als man ihn zu Tode prügelte, sagte er stöhnend: ‚Der Herr mit seiner heiligen Erkenntnis weiß, dass ich dem Tode hätte entrinnen können. Mein Körper leidet qualvoll unter den Schlägen, meine Seele erträgt sie mit Freuden, weil ich ihn fürchte.‘ So starb er; durch seinen Tod hinterließ er nicht nur der Jugend, sondern den meisten aus dem Volk ein Beispiel für edle Gesinnung und ein Denkmal der Tugend.“
In dieser Geschichte finden sich bereits einige zentrale Elemente des christlichen Helden, vor allem die Standhaftigkeit, die aus seinem Glauben erwächst und die Kraft vermittelt, dem Tod furchtlos in die Augen zu schauen. Doch auch Heiden waren aufrecht in den Tod gegangen. So hatte der große Sokrates, der unter anderem als „Verderber der Jugend“ zum Tod verurteilt worden war, es abgelehnt, aus dem Gefängnis zu fliehen; er wollte bis zum bitteren Ende dem eigenen Anspruch tugendhafter Wahrheit gerecht werden. Was also unterscheidet den christlichen Helden signifikant von einem säkularen Helden wie Sokrates?
Diese Frage wird im zweiten Makkabäer-Buch thematisiert. Im Anschluss an die Eleazar-Erzählung wird das Martyrium der sieben Brüder und ihrer Mutter in schockierenden Details ausgebreitet: Dem ersten Bruder wird „die Zunge abgeschnitten, ihm nach Skythenart die Kopfhaut abgezogen, Nase, Ohren, Hände und Füße stückweise abgehackt“ und schließlich „in der Pfanne gebraten“. Die spätantiken Märtyrerakten und die mittelalterlichen Leidensberichte folgen dem literarischen Muster des zweiten Makka‧bäer-Buchs. Mit ihren grausamen Schilderungen entsprechen sie den Bedürfnissen eines schon immer sensationslüsternen Publikums. Viele spätantike und mittelalterliche Erzählungen über standhaft in den Tod gegangene Glaubenshelden überbieten sich in der Ausmalung grässlicher Folterdetails.
Aber nicht sein Vermögen, auch Grausamstes ertragen zu können, unterscheidet den christlichen Helden von anderen, sondern dass er darauf bauen kann, für sein Martyrium überreich entschädigt zu werden. Dies ist die ausdrückliche Kernbotschaft der Erzählung vom Martyrium der sieben Brüder und ihrer Mutter. Schon der erste Bruder gibt sich in seiner Sterbestunde überzeugt: Gott „wird mit seinen Dienern Erbarmen haben“. Der zweite Bruder sagt zu seinem Folterknecht: „Du Unmensch! Du nimmst uns dieses Leben; aber der König der Welt wird uns zu einem neuen, ewigen Leben auferwecken, weil wir für seine Gesetze gestorben sind.“ Als der dritte Bruder gefoltert wird und man seine Zunge und seine Hände fordert, sagt er gefasst: „Vom Himmel habe ich sie bekommen, und wegen seiner Gesetze achte ich nicht auf sie. Von ihm hoffe ich sie wiederzuerlangen“. Der vierte Bruder „sagte, als er dem Ende nahe war: ‚Gott hat uns die Hoffnung gegeben, dass er uns wieder auferweckt. Darauf warten wir gern, wenn wir von Menschenhand sterben‘.“ Es ist also die Hoffnung auf die Auferstehung und das ewige Leben, das dem christlichen Helden die Kraft gibt, sein Martyrium zu bestehen…
Literatur: Walter Ameling (Hrsg.), Märtyrer und Märtyrerakten. Stuttgart 2002. Sabine Behrenbeck, Der Kult um den toten Helden. Vierow bei Greifswald 1996. Anna Maria Schwemer, Prophet, Zeuge und Märtyrer. Zur Entstehung des Märtyrerbegriffs im frühesten Christentum, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche (96/1999), Seite 320 – 350.
Prof. Dr. Hans-Henning Kortüm