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Nabel der Welt

Jerusalem im jüdisch-religiösen Denken

Nabel der Welt
Nach dem Passah-Fest wünschten sich Juden über lange Zeiten: „Und nächstes Jahr in Jerusalem”. Jerusalem galt als Zentrum der Welt – doch was bedeutete das? Drückte sich hier die Sehnsucht nach einem konkreten Ort aus oder handelte es sich um ein zentrales religiöses Symbol?

„Komm und sieh, so wie der Nabel in der Mitte des Mannes ist, so befindet sich das Land Israel in der Mitte der Welt, … und so ist auch Jerusalem in der Mitte des Landes Israel, und das Heiligtum befindet sich in der Mitte Jerusalems, und der Tempel in der Mitte des Heiligtums, und die Lade in der Mitte des Tempels, und der Grundstein ist vor der Lade, denn von ihm ging die Gründung der ganzen Welt aus.” So lautet eine Auslegung der Psalmverse 50,1–2: “Ein Gott der Götter ist der Herr, er redet und ruft die Erde vom Anfang der Sonne bis zu ihrem Untergang. Von Zion, der Vollendung der Schönheit, ist Gott erschienen.” Jerusalem steht also im Zentrum des jüdischen Weltbilds. Wie Delphi den Griechen als omphalos tou kosmou, Rom den Römern als umbilicus mundi, so galt Jerusalem den Juden – und den Christen – als Tabbur HaOlam, als „Nabel der Welt”.

Nach der Halacha (dem gesetzlichen Teil der jüdischen Überlieferung) ist Jerusalem der heiligste Ort im heiligen Land. Und die heilige Stadt selber stellt sich als eine Art religös-hierarchisch gegliederte Pyramide dar: “Innnerhalb der Mauern”, heißt es im Talmud, “ist der Raum noch heiliger… Der Tempelberg ist noch heiliger, der Zwinger ist noch heiliger… Der Frauen-Vorhof ist noch heiliger… Der Israeliten-Vorhof ist noch heiliger… Der Priester-Vorhof ist noch heiliger… Der Raum zwischen dem Vorraum und dem Altar ist noch heiliger… Der Tempel ist noch heiliger… Das Allerheiligste ist heiliger als jene.” Die Symbole der Mitte und des Nabels sind allerdings auch problematisch. Es gibt ja keinen Tempel, keine Stadt, kein Reich, die sich nicht für den Mittelpunkt der Welt hielten. Aus der egozentrischen Nabelschau erwachsen die Ungerechtigkeiten – und das gute Gewissen dazu! Wie alle anderen Symbole stellt die rabbinische Tradition aber auch das Symbol des Nabels in Frage.

Vom eigentlichen Zentrum der Welt, vom Grundstein des Tempels, der sich im Allerheiligsten befand, heißt es in der Mischna (der ursprünglich mündlich tradierten Lehre) schlicht: “Nach der Entfernung der Bundeslade befand sich dort ein Stein aus den Zeiten der früheren Propheten. Er wurde ‚Grundstein‘genannt und ragte aus der Erde drei Daumenbreit hoch.” Im Gegensatz zur Zelle mit dem Gottesbild in heidnischen Tempeln, war das Allerheiligste bis auf diesen Grundstein leer. Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus Flavius sagt schlicht: “In ihm befand sich rein gar nichts.” So sollte wohl vermieden werden, daß der Grundstein anstelle des Götzenbildes tritt…

Prof. Dr. Daniel Krochmalnik

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