Am 13. April 1204 wurde Konstantinopel, die Hauptstadt des christlichen Byzantinischen Reichs, von lateinischen Kreuzfahrern erobert und geplündert – eine Perversion der Kreuzzugsidee wurde dieser barbarische Akt genannt. Die Kreuzfahrer nahmen damals alles mit, was nicht niet- und nagelfest war. So kam Westeuropa zu zahlreichen gestohlenen Kunstwerken: Elfenbein, Goldschmiedearbeiten, Kleinkunst, illuminierte Handschriften und Textilien. Doch genau dieser Transfer, den man in späteren Jahrhunderten unter dem Begriff „Beutekunst“ zusammenfassen sollte, führte als Vorbild, dem man nachzueifern suchte, in Westeuropa zu einem außergewöhnlichen künstlerischen Kreativitätsschub.
Diese Einflüsse waren bereits allerorten spürbar, als Konrad von Tann, seit 1221 Domkustos von Speyer, ein Evangelistar in Auftrag gab, das in der Domkirche an hohen Festtagen Verwendung finden sollte. Als Kustos war Konrad, der aus einem mit den Staufern verbundenen Ministerialengeschlecht stammte, verantwortlich für die bauliche Unterhaltung und den Schmuck des Doms. Und zum Schmuck zählte ein solches Evangelistar ohne Zweifel. 1233 wurde Konrad schließlich Bischof von Speyer; ein Amt, das er bis zu seinem Tod drei Jahre später innehatte.
Unverkennbar ist der byzantinische Einfluss des Evangelistars etwa in der Verkündigungsszene (siehe oben): Wie bei einem byzantinischen Mosaik hat der Künstler den Erzengel Gabriel und Maria vor einen leuchtenden Goldhintergrund gesetzt. Der Engel ist ein gelockter Jüngling, der einen goldenen Stirnreif als Schmuck trägt. Diese Darstellungsweise greift auf spätantike Vorbilder zurück, wie sie ebenfalls über Byzanz vermittelt worden sind.
Es ist kein statisches Bild, das der Künstler hier geschaffen hat. Der Engel schreitet geradezu tänzelnd vor‧an, Maria ist mit der Spindel beschäftigt und neigt ihren Kopf zu dem göttlichen Boten, der seine rechte Hand zum Segen erhoben hat. Beide Körper sprengen durch ihre Bewegung den Rahmen, was der Miniatur eine zusätzliche Dynamik verleiht. Die Wangen sind – wie bei allen Gesichtern im Speyerer Evangelistar – rot betont…
Das Faksimile
Die Faksimile-Edition des Speyerer Evangelistars, das heute in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe aufbewahrt wird, erscheint in einer auf 280 Exemplare limitierten Auflage im Quaternio Verlag Luzern: 77 Blatt im Originalformat von 33,2 mal 25,3 Zentimetern. Über den Band verteilt sind 17 ganzseitige Miniaturen (darunter jene des Evangelisten Johannes auf der Titelseite dieses Sonderdrucks) und 70 große, zum Teil miniaturähnliche Initialen. Besonderer Wert wurde bei der Faksimilierung auf die Intensität der Farben und die Leuchtkraft der teilweise mit feinsten Arabesken ziselierten Goldflächen gelegt. Ebenfalls in einem aufwendigen Verfahren faksimiliert wurde der romanische Prunkdeckel des Evange‧listars aus dem 13. Jahrhundert. Der Kommentarband wurde verfasst von dem Kunsthistoriker Harald Wolter-von dem Knesebeck (Universität Bonn) und Ute Obhof (Badische Landesbibliothek). Erhältlich ist zudem eine Dokumentationsmappe mit drei Original-Faksimileblättern und einer 16-seitigen illustrierten Informationsbroschüre.
Quaternio Verlag Luzern, Obergrundstrasse 98, 6005 Luzern (Schweiz) http://www.quaternio.ch
Uwe A. Oster