Achtundzwanzig Jahre sollte Bismarck Außenminister und preußischer Ministerpräsident bleiben, später dann zusätzlich noch leitender Minister, Kanzler, des 1866 gegründeten Norddeutschen Bundes und 1871 des Deutschen Reiches werden. Das freilich war am 22. September 1862 von niemandem vorauszusehen und noch weniger, daß der während der Revolution von 1848 als Rechtsaußen Aufgestiegene und dann von der siegreichen Gegenrevolution mit hohen Posten in der Diplomatie Belohnte eine ganze Epoche prägen würde.
Es war ein letzter verzweifelter Akt, der den politisch weitgehend isolierten Monarchen zu dieser Ernennung veranlaßte, vor der er in den Monaten davor immer wieder zuückgeschreckt war. In dem sich zu einem Verfassungskonflikt entwickelnden Kampf um die Heeresreform sah er sich einer übergroßen Mehrheit des preußischen Abgeordnetenhauses gegenüber. Er selber mißtraute dem Radikalismus der Positionen und des politischen Auftretens, die dem ihm von rechten Kreisen um den Kriegsminister von Roon vorgeschlagenen Kandidaten eigen waren, und wollte ihn jedenfalls an ein festes, klar formuliertes Programm binden. Mit unverhohlenem Triumph hat Bismarck noch in seinen Lebenserinnerungen, den “Gedanken und Erinnerungen”, geschildert, wie er während der entscheidenden Unterredung im Schloßpark von Babelsberg diesen Plan mit den Worten beiseitegeschoben habe: „Ich fühle wie ein kurbrandenburgischer Vasall, der seinen Lehnsherrn in Gefahr sieht. Was ich vermag, steht Euer Majestät zur Verfügung.” Überwältigt von diesem Ausdruck unbedingter Loyalität, der persönlichen Treue und der bedingungslosen Unterstützung der eigenen, von vielen Seiten – bis hin zu dem eigenen Sohn und Thronfolger – in Frage gestellten Position habe der König seine ernsthaft ins Auge gefaßten Abdankungspläne zurückgestellt und erklärt: “Dann ist es meine Pflicht, mit Ihnen die Weiterführung des Kampfes zu versuchen, und ich abdiziere nicht.”
Damit hatte Bismarck nicht nur das Amt, sondern sozusagen einen Blankoscheck für dessen Führung erreicht. Er war nun mit einem Schlag, zumindest formal, der politisch entscheidende Mann in Preußen, weder derm König noch dem Parlament gegenüber an ein festes Programm gebunden. Was aber war sein eigenes Programm, was waren seine eigenen politischen Ziele, die er verfolgte und durchzusetzen versuchte? Hatte er sie in einem weiter ausgreifenden, über den Erfolg des Augenblicks hinausreichenden Sinne überhaupt? Sind ihm Plan und Programm nicht immer erst nachträglich zugeschrieben worden, je nachdem, wohin sich die Waage des äußeren Erfolgs, der ihn kaum je verließ, am Ende zuneigte? Darüber geht seit mehr als einem Jahrhundert die Diskussion des „Bismarckproblems” und mit ihm zugleich über Grundfragen der jüngeren deutschen Geschichte, deren Gang er unbestreitbar und unbestritten so entscheidend beeinflußt hat.
Bismarcks Biographie bis zu jenem September 1862, die Entwicklung seiner politischen Haltung, seiner Ansichten und seiner Ziele schienen und scheinen auf den ersten Blick klar, bei näherem Hinsehen aber zumindest im Rückblick, in Kenntnis des weiteren Gangs der Dinge und Bismarcks Rolle in ihm, höchst verwirrend. Für die unmittelbaren Zeitgenossen stand das Urteil fest: “Mit der Verwendung dieses Mannes”, so der Publizist August Ludwig von Rochau, Parlamentsstenograph von 1848, in der Wochenschrift des kleindeutsch-liberalen Nationalvereins, “ist der schärfste und letzte Bolzen der Reaktion von Gottes Gnaden verschossen”. Und er fügte hinzu: „Wenn er auch manches gelernt und verlernt haben mag, ein vollgültiger Staatsmann ist er keinesfalls, sondern nur ein Abenteurer von allergewöhnlichstem Schnitt, dem es lediglich um den nächsten Tag zu tun ist.” Dabei sei das einzige, von dem man nach seiner ganzen bisherigen Biographie ausgehen könne, daß er ein Reaktionär reinsten Wassers sei, ein Wortführer völlig anachronistischer „feudaler” Prinzipien und Interessen, mit einem Wort, wie es der hessischer Liberale Friedrich Oetker formulierte, ein „serviler Landjunker”.
Von dem Nachkommen einer einstmals gegen die Krone und den monarchisch-bürokratischen Staat frondierenden mittleren märkischen Adelsfamilie war die Rede, der, am Assessorexamen gescheitert, im Kampf gegen die Revolution, für die Krone und vor allem für die alte Ordnung politisch emporgekommen und als Herold der siegreichen Gegenrevolution Karriere gemacht habe. Daß er mütterlicherseits ein Enkel eines bürgerlichen Kabinettssekretärs Friedrichs des Großen war, daß er den üblichen Landjunker belächelte, ja, verachtete, daß er zur Literatur, zur Musik und Kunst ein engeres Verhältnis hatte als mancher sogenannte Bildungsbürger, daß Goethe und Byron, Lenau, Chamisso und Uhland und vor allem Heine zu seinen Lieblingsschriftstellern zählten, an deren Hand er selber zu einem der größten Stilisten des Jahrhunderts wurde, daß er von einer Karriere im Stile Peels in einem parlamentarischen Staat wie England träumte, kurz, daß er in vielem so gar nicht in die Kategorie des Junkers paßte, das übersah man oder wußte es zu diesem Zeitpunkt schlicht nicht.
Er selber aber war sich des Zwiespalts aus seiner Herkunft und vor allem nach seinem ganzen Charakter von früh auf bewußt. Und wenn er sich auch, gleichsam in einem Willensakt, klar für die Welt des Vaters, für die Welt der Junker entschied, so stand er doch nach Bildung, nach Selbst- und Weltverständnis, auch nach Lebensgefühl ebenso klar an der Grenze, an der Grenze zur bürgerlichen, zur unaufhaltsam heraufziehenden modernen Welt, deren Dynamik, deren Fortschrittsdrängen, aber auch deren innere Zerissenheit er besser verstand – und auch innerlich nachvollziehen konnte – als die große Mehrheit seiner Standesgenossen.
Mit einem Wort: Er war im Inneren weitaus schwankender, unsicherer, auch nervöser als er sich nach außen hin gab. Die Zeitgenossen sahen freilich zunächst einmal dieses außen, und das vermittelte ein klares und eindeutiges Bild. Begonnen hatte er seine öffentliche Laufbahn 1847 als nachgerückter ritterschaftlicher Abgeordneter im vom damaligen König, Friedrich Wilhelm IV., vor allem aus finanziellen Gründen berufenen preußischen Vereinigten Landtag, in dem er sich sogleich auf der äußersten Rechten plazierte. Als selbsternannter Verteidiger der traditionellen Stellung der Krone und als einer der jungen Wortführer der Gegenrevolution in der Auseinandersetzung mit der zunächst siegreichen Revolution war er im weiteren in das Gothaer Unionsparlament gewählt worden; hierhatte er in schroffer Form das – nicht nur von den Liberalen, sondern auch von einem Teil der eigenen Anhängerschaft kritisierte – Zurückweichen Preußens vor Österreich und Rußland in Olmütz verteidigt, indem er sich auf das wahre preußische Staatsinteresse, auf die preußische Staatsräson berief. Zum Lohn dafür war er, ohne diplomatische Schulung und Erfahrung, 35jährig von Friedrich Wilhelm IV. auf den bei Lage der Dinge wohl wichtigsten diplomatischen Posten des Landes, zum preußischen Gesandten beim Deutschen Bundestag in Frankfurt am Main berufen worden.
In diesem Amt hatte er sofort eine schroffe, provozierende Haltung gegenüber der österreichischen Präsidialmacht eingenommen. Er hatte sich strikt geweigert, wie er sich ausdrückte, „unsere schmucke und seefeste Fregatte an das wurmstichige alte Orlogschiff von Österreich” zu koppeln, sprich, wie vor 1848 mit dem Kaiserstaat politisch eng zusammenzuarbeiten, wiederum im Bund wie auf der europäischen Ebene die Rolle des Juniorpartners Österreichs zu spielen. Vom preußischen Staats- und Großmachtsinteresse her gesehen – dem einzigen für einen preußischen Politiker und Diplomaten angemessenen Gesichtspunkt – sei die bestehende Situation in Mitteleuropa, “schon unserer geographischen Verwachsenheit wegen”, schon längst unerträglich geworden. Preußen und Österreich atmeten einander die “Luft vor dem Munde” fort und auf Dauer müsse “einer weichen oder vom anderen gewichen werden”.
Das blieb freilich, so offen, ja brutal er es den anderen Bundesvertretern in Frankfurt und auch dem österreichischen Präsidialgesandten gegenüber ausgesprochen hatte, den meisten Zeitgenossen verborgen, denn es fand seinen Niederschlag allein in den diplomatischen Akten. Noch mehr galt dies hinsichtlich der immer schärferen Ausprägung eines rein machtstaatlichen Denkens, das sich mehr und mehr von allen ideologischen und weltanschaulichen Bindungen, seien sie liberaler oder konservativer Natur, löste und die Beziehungen zu anderen Staaten allein vom mit äußerster Nüchternheit konstatierten Machtinteresse des eigenen Staates bestimmt wissen wollte. Hiervon war in dieser zugespitzten Form nur in dem privaten Briefwechsel mit seinem väterlichen Freund und politischen Mentor Leopold von Gerlach die Rede gewesen.
Anders gesagt: Mit welchen außenpolitischen Grundvorstellungen, mit welcher Distanz auch zu den Ideen einer gleichsam natürlichen Solidarität der konservativen Mächte – wie auf der anderen Seite der liberalen Staaten – der neue Minister sein Amt antrat, war unbekannt, und ebenso, welche Bündnisse und situationsbedingte Koalitionen er insgeheim ins Auge zu fassen bereit war. “Sympathien und Antipathien in Betreff auswärtiger Mächte und Personen”, hatte er Gerlach gegenüber erklärt, “vermag ich vor meinem Pflichtgefühl im auswärtigen Dienst meines Landes nicht zu rechtfertigen, weder an mir noch an anderen; es ist darin der Embryo der Untreue gegen den Herrn oder das Land, dem man dient.” Und noch schärfer in einem Brief an den Kriegsminister von Roon, ein gutes Jahr vor seiner Berufung zum preußischen Außenminister: “Ich bin meinem Fürsten treu bis in die Vendée, aber gegen alle anderen fühle ich in keinem Blutstropfen eine Spur von Verbindlichkeit, den Finger für sie aufzuheben.”
Die Öffentlichkeit, auch die Parteien, zumindest die zu diesem Zeitpunkt eindeutig dominierenden liberalen Parteien und ihr Führungspersonal, sahen in ihm damals vor allem den Innenpolitiker und vermuteten, sein außenpolitisches Konzept sei in erster Linie von hier aus bestimmt. Auch hinsichtlich des Innenpolitikers blieb das Bild bestimmt von den Erfahrungen in der Revolutionszeit und den unmittelbar darauf folgenden Jahren, war also gleichsam auf einen Status fixiert, der mehr als zehn Jahre zurücklag. Was sich zwischenzeitlich in seinen Vorstellungen und Ideen geändert haben mochte, entzog sich der Kenntnis. Dominierend war das Bild eines scharf und provozierend auftretenden jungen Vertreters der Gegenrevolution, eines Mannes der äußersten Rechten, der die noch ganz im Sinne des Absolutismus interpretierten Rechte der Krone und vor allem die alte Ordnung ohne eine Spur von Kompromißbereitschaft mit den Kräften der neuen Zeit verteidigt hatte. Und dieses Bild schien der neue leitende Minister mit seiner entschiedenen Konflikt- und Restriktionspolitik nachdrücklich zu bestätigen…
Prof. Dr. Lothar Gall