Ostersonntag 1954: In Anspielung auf das Wunder der Auferstehung steht der an diesem Tag vom Westdeutschen Rundfunk (noch als Radio-Sendung) ausgestrahlte und von Werner Höfer moderierte „Internationale Frühschoppen“ mit Journalisten aus mehreren Ländern unter dem Thema „Das deutsche Wirtschaftswunder“. Erstmals wurde ein Begriff diskutiert, der, ursprünglich von der ausländischen Presse in Umlauf gebracht, inzwischen auch in der Bundesrepublik Widerhall gefunden hatte und schon bald Karriere als Etikett des ganzen Jahrzehnts machen sollte. Zwei Jahre zuvor wäre dieses Schlagwort noch nicht einmal denkbar gewesen – nun fragte sich die Journalistenrunde, worin dieses Wunder eigentlich bestand und wann es seinen Anfang genommen habe. Immerhin herrschte Einigkeit darüber, dass es sich ohne die Währungsreform vom 20. Juni 1948 nie hätte ereignen können. Sie hatte erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Kräfte des freien Wettbewerbs und damit der „sozialen Marktwirtschaft“ zur raschen Entfaltung kommen konnten – mit dem neuen „guten“ Geld als nunmehr einzig gültigem „Bezugsschein“ für Waren und Dienstleistungen aller Art. Den westdeutschen Verbrauchern erschien die wundersame Verwandlung des öffentlichen Raums wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht – für jeden nüchtern denkenden Kaufmann bedeutete dieser Montag jedoch nichts anderes als die Rückkehr zum normalen, von Angebot und Nach‧frage bestimmten Marktgeschehen – mit historisch einmaligen Wachstumspotentialen.
Schließlich hatten die deutschen Verbraucher ein ganzes Jahrzehnt lang das zum Überleben Notwendige nur unter Vorlage von Bezugsscheinen ergattern können. Die Verwaltung des Mangels, als Kalorienzuteilung auf Lebensmittelkarten und im endlosen Schlangestehen vor den Ausgabe‧stellen tagtäglich erlitten, hatte ihr Dasein über Jahre hin geprägt. Ludwig Erhard wusste sehr wohl, welch große symbolische Bedeutung allein schon in der Wiederverfügbarkeit solcher Produkte liegen musste, auch wenn diese noch längst nicht für jeden Geldbeutel erreichbar waren: „Als Persil und die anderen Henkelprodukte“ wieder in den Schaufenstern auslagen, hätten die Leute Vertrauen gefasst, „dass nun wieder Frieden eingekehrt“ sei.
Das neue, „gute“ Geld wirkte auf viele Unternehmer wie ein Magnet. Dies galt umso mehr für diejenigen, die sich auf dem Gebiet der DDR mit planwirtschaftlichen Verwaltungsmaßnahmen oder gar Enteignung konfrontiert sahen und dadurch geradezu aus dem Land getrieben wurden. Volkswirtschaftlich gesehen bedeutete dies für die Bundesrepublik, dass neben den schon immer hier ansässigen Firmen nicht nur eine Reihe von neuen Betrieben, sondern ganze Industriebranchen, die es zuvor so hier gar nicht gegeben hatte, entstanden. So war etwa die deutsche Strumpfindustrie vor dem Zweiten Weltkrieg in Sachsen und der Lausitz konzentriert gewesen. Mit der Währungsreform hatte sich in der Bundesrepublik vom einen auf den anderen Tag auch für ein Produkt wie Strümpfe – insbesondere solche aus den neuen Zauberfasern Nylon bzw. Perlon – ein Markt von fast 20 Millionen Nachfragerinnen eröffnet.
In fast allen Branchen sollte der geradezu jungfräulich zu nennende Markt die Grundlage für eine außerordentliche Wachstumsdynamik der westdeutschen Wirtschaft mit teilweise zweistelligen jährlichen Zuwachsraten werden. Es war ein Bündel von Faktoren, welche die Unternehmen in die Lage versetzten, diesen Markt schnell und gut zu bedienen. Sicherlich waren zur Wiederherstellung der Produktionskapazitäten auch die etwa 1,3 Milliarden Dollar an Finanzmitteln aus dem Marshall-Plan hilfreich. Schwerer wog hingegen, dass es im westlichen Teil Deutschlands wesentlich weniger Demontagen von Produktionsmitteln gab als in der sowjetischen Zone. Zudem zeigte sich, dass bei einer genaueren Inspektion längst nicht so viele Anlagen durch Kriegseinwirkungen unbrauchbar geworden waren wie zunächst befürchtet. Und was zerstört oder demontiert worden war, konnte in kurzer Zeit nicht nur wieder instand gesetzt, sondern durch modernere und bessere Anlagen ersetzt werden. Dadurch stieg die Produktivität der westdeutschen Industrie überdurchschnittlich stark an – und ihre Erzeugnisse wurden bald auch im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig.
Beim Verbraucher schlug sich der ungeheure Nachholbedarf in den bekannten Wellenphänomenen der sogenannten „Fress-“, „Bekleidungs-“, „Einrichtungs-“, „Motorisierungs-“ oder „Reisewelle“ nieder. Vom heutigen Blickwinkel aus betrachtet, wird dabei gern übersehen, wie sehr die Unternehmen auch damals schon gefordert waren, auf Marktveränderungen schnell und entschieden zu reagieren. Wer etwa als Perlonstrumpfproduzent seinen Betrieb nicht rechtzeitig von Flach- auf Rundstrickmaschinen – die zur Herstellung von nahtlosen Strümpfen notwendig waren – umstellte, musste bald Konkurs anmelden…
Literatur: Dirk Schindelbeck / Volker Ilgen, „Haste was, biste was!“ Werbung für die soziale Marktwirtschaft. Darmstadt 1999. Dirk Schindelbeck, Marken, Moden und Kampagnen. Illustrierte deutsche Konsumgeschichte. Darmstadt 2003.
Dr. Dirk Schindelbeck