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Kamikaze. Der göttliche Wind

Was Marco Polo sich über Japan erzählen ließ

Kamikaze. Der göttliche Wind
Als der Großkhan Khubilai die Weltherrschaft anstrebte, verlangte er auch die Unterwerfung Japans. Dieses Ansinnen endete in einem Desaster – und daraus entstand ein nationaler Mythos, der im Zweiten Weltkrieg die Vereinigten Staaten provozierte.

Am 14. April 1945 flog Watanabe Toshi‧hiro, Hauptmann der Kaiserlichen Japani‧schen Luftwaffe und Mitglied einer Kamikaze-Einheit zur selbstmörderischen Bekämpfung des Feindes, mit seinem Jagdflugzeug vom Typ Nakajima Ki-27 von der Mandschurei nach Süd‧japan. Wegen eines Maschinendefekts musste er in der Bucht von Hakata an der Nordküste der Insel Kyushu notlanden. Die Maschine versank, der Pilot konnte sich retten, kam aber wenig später bei einer Selbstmordattacke im Süden ums Leben. Erst 50 Jahre später wurde das Wrack geborgen, restauriert und in der Klein‧stadt Tachiarai bei Fukuoka in einem Luftfahrtmuseum (das sich „Friedensmuseum“ nennt) ausgestellt.

Da die Ki-27 schon zu Beginn des Pazifischen Kriegs als veraltet galt, wurde sie bevorzugt für Kamikaze-Angriffe verwendet. Das Exemplar in Tachiarai ist das einzige, das den Krieg überdauerte; alle anderen wurden entweder im Einsatz zerstört oder nach dem Krieg verschrottet. Heute erinnert es an den Irrsinn der letzten Kriegstage und gleichzeitig an den Mythos von kamikaze, dem „Götterwind“, der in ebenjener Gegend sieben Jahrhunderte zuvor entstanden war. Auch daran war der „Westen“ beteiligt, denn als Erster erzählte davon der venezianische Abenteurer Marco Polo.

17 Jahre lebte Marco Polo am Hof des Großkhans Khubilai in Khanbalik (beim heutigen Peking). Der Enkel Dschingis Khans war nicht nur mongolischer Herrscher, sondern auch Kaiser von China. Vermutlich hatte Marco Polo kein herausragendes Amt inne, aber er gehörte zur Schicht der ausländischen „Experten“ und hatte an deren Privilegien Anteil. Er sprach vier Sprachen, beherrschte ebenso viele Schriftarten und diente seinem Herrn, so gut er konnte. Sein ganzes weiteres Leben lang verstand er sich als dessen treuer Gefolgsmann.

Als er nach jahrzehntelanger Abwesenheit wieder in seiner Heimatstadt lebte, schrieb er ein Buch, das eine Beschreibung der Welt sein sollte, in dessen Mittelpunkt jedoch der Großkhan Khubilai stand. Dieser herrschte über ein riesiges und unermesslich reiches Imperium, das er, folgt man Marco Polo, in idealer Weise regierte: umsichtig, effizient und allwissend, großzügig gegenüber den Großen, mildtätig gegenüber den Armen, gerecht gegen alle. Doch Marco Polo verschwieg auch nicht die Niederlagen, die Khubilai in der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit einstecken musste. Die schwerste davon war der Verlust seiner Flotte im Krieg gegen Japan.

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Marco Polo betrat nie japanischen Boden. An Khubilais Feldzügen gegen das Inselreich nahm er nicht teil. Was er von dort mitteilte, hatte er von chinesischen oder mongolischen Gewährsleuten erfahren. Er nannte das Land Cipangu und gab damit – etwas verballhornt – die chinesische Übersetzung der japanischen Selbstbezeichnung wieder: nihon-koku, das „Land der aufgehenden Sonne“; mit der chinesischen Aussprache der Schriftzeichen (ri-ben-guo) hängt die heutige (Fremd-)Bezeichnung „Japan“ entfernt zusammen.

Da ein regelmäßiger Handel die japanischen Inseln mit dem chinesischen Festland verband, wusste man über die geographischen Verhält‧nisse Bescheid. 1500 Seemeilen, berichtet Marco Polo, mussten die Kaufleute überwinden, um nach Cipangu zu kommen; dabei wurden sie im Herbst durch nordwestliche, im Frühjahr durch südwestliche Winde unterstützt, die Überfahrt war also zweimal im Jahr möglich. Bei Marco Polo findet sich also die erste Erwähnung der Monsunwinde in einer europäischen Quelle, lange bevor sie Vasco da Gama bei seiner Entdeckung des Seewegs nach Indien erneut fand. Auch die Entfernungsangabe ist zutreffend – wenn man von chinesischen (etwa 500 Meter) und nicht von italienischen oder anderen europäischen Meilen ausgeht. Leser Marco Polos, die mit den ihnen vertrauten Längenmaßen hantierten wie etwa Christoph Kolumbus, kamen hingegen zu grotesk verzerrten geographischen Vorstellungen.

Allerdings sprach Marco Polo immer nur von einer japanischen Insel. Er meinte damit Kyushu und Honshu; Shikoku und Hokkaido ließ er beiseite. Umgeben sei Cipangu von 7448 „indischen“ Inseln. Für jeden europäischen Karto-graphen war das eine unfassliche Zahl. Rechnet man jedoch nicht nur die etwa 3000 japanischen Inseln, sondern auch die Philippinen (7000) und die indonesische Inselwelt (1 000) hinzu, haben Marco Polo und seine Informanten nicht über-, sondern untertrieben.

Seltsame Dinge gab es von Cipangu zu berichten. Nicht nur seien die Bewohner von großer Schönheit und bemerkenswert weißer Hautfarbe, sondern auch durch große Höflichkeit und gefällige Manieren ausgezeichnet. Man mag darin einen Hinweis auf die ausgeprägte rituelle Förmlichkeit im japanischen Alltag erblicken. Andererseits seien alle Japaner Götzendiener und pflegten Götzenbilder mit Tierköpfen, mehreren Gesichtern und vier, zehn oder 1000 Händen anzubeten. Als Christ, dem das Verbot der Bilderverehrung wichtig sein musste, brachte Marco Polo seinen Abscheu deutlich zum Ausdruck. Auch wurde ihm zugetragen, dass die Insulaner ihre Höflichkeit zuweilen ablegten und bei Gelegenheit fremde Gäste verspeisten.

Nichts von diesem Gerücht lässt sich in der historischen Wirklichkeit verifizieren. Auf Gerüchten basierte auch fast alles, was man sich über die Reichtümer der japanischen Inseln erzählte. Es wurde über wertvolle Hölzer und Gewürze, über Edelsteine und Perlen von besonderer Güte fabuliert; Gold soll Cipangu in solchen Mengen besessen haben, dass das Dach und die Fußböden im Palast des Herrschers aus purem Gold gefertigt waren. Am sinnvollsten erklärt man sich diese Legende mit dem Wechselkurs von Gold zu Silber, der für chinesische Kaufleute so günstig war, dass sie in Japan unendliche Goldvorräte vermuteten. Gleichwohl ist es nach wie vor reizvoll, für die Legende vom goldenen Palast des Herrschers ein reales Vorbild zu suchen. Am ehesten kommt dafür die „Goldene Halle“ des Chusonji-Tempels in Hiraizumi (Nordostjapan) aus dem frühen 12. Jahrhundert in Frage, deren goldene Pracht bis heute erstaunt…

Prof. Dr. Folker Reichert

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