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Im viktorianischen Wunderland

Die Industrialisierung und ihre Folgen

Im viktorianischen Wunderland
Es war eine laute Zeit, es war eine schnelle Zeit, und es war eine Zeit, in der alles möglich schien. Das Viktorianische Zeitalter war geprägt von einer ungeheuren Aufbruchsstimmung, aber auch von gewaltigen sozialen und religiösen Gegensätzen.

Thomas Arnold stellte 1832 fest, seine Generation habe 300 Jahre Entwicklung in einem Zeitraffer von nur 30 Jahren erlebt. Er selbst zählte zwar noch nicht zu den Viktorianern, aber er vermittelte an seiner Eliteschule Rugby bereits einen neuen, viktorianisch anmutenden Wertekodex. Natürlich ist es schwer, den typischen „Viktorianer“ zu defi‧nieren. Die sozialen und religiösen Unterschiede waren im 19. Jahrhundert groß, ganz zu schweigen von den geographischen. Ein Schotte – gleich welcher Schicht oder Religion – sah wenig Gemeinsamkeiten mit einem Engländer oder Waliser. Das Nord-Süd-Gefälle, das heute immer noch ein Problem darstellt, war schon damals virulent.

Es ist auch zu einfach, das Viktorianische Zeitalter mit der Thronbesteigung Königin Vic-torias beginnen zu lassen. Die Übergänge von den Georgians zu den Victorians und später zu den Edwardians waren komplexe und häufig fließende Prozesse. Der Begriff „Viktorianisches Zeitalter“ wurde erstmals 1851 in einem Architekturbuch verwendet, doch der rasante Rhythmus dieser Zeit setzte lange vor 1837 ein. Die industrielle Revolution war die Ouvertüre. Die seit 1800 kontinuierlich anwachsende Zahl an Maschinen gab den weiteren Takt vor. Arbeiter für sie zu finden war nicht schwer. In den Jahren zwischen 1801 und 1851 verdoppelte sich die Bevölkerung von neun auf 18 Millionen Menschen. Als die Königin 1901 starb, waren es bereits 30,5 Millionen. Diese Menschenmassen brauchten Arbeit und Verpflegung, aber auch neuen Wohnraum. Die Baubranche boomte. Über sechs Millionen neue Häuser entstanden, das Land wurde mit Straßen, Abwasserkanälen und Eisenbahngleisen überzogen – die Viktorianer schufen eine völlig neue Infrastruktur, die bis heute genutzt wird.

Man dachte jedoch nicht nur funktional, sondern wollte den neuerworbenen Wohlstand auch mit Prachtbauten demonstrieren. John Nash trug schon während des Regency (der Prinzregentenzeit 1811–1820) dazu bei, das Stadtbild Londons pompöser zu gestalten. Viele der heutigen Touristenattraktionen entstanden damals – das Britische Museum, die National Gallery und der Wellington-Triumphbogen im Hyde Park. Die theatralische Schönheit der Metropole entfachte landesweit den Ehrgeiz von Stadtvätern. Nicht nur London sollte Prachtstraßen bekommen, auch die reich gewordenen Provinzstädte schmückten sich nun mit imposanten Rathäusern und Bibliotheken. Man wollte damit bürgerliches Selbstbewusstsein und Bildungshunger demonstrieren, aber auch die imperiale Größe Großbritanniens widerspiegeln.

Heute leben 80 Prozent der Briten in Städten, doch die Sehnsucht nach dem Landleben ist unerschütterlich geblieben. Schon viktorianische Schriftsteller und Maler versuchten, dieses Verlangen nach einem vorindustriellen, ländlichen Leben, aber auch nach „Reinheit“ im menschlichen Miteinander künstlerisch zu verarbeiten. In den Hintergrund lieblicher Landschaftsbilder schlichen sich allerdings immer häufiger Industriestädte mit bedrohlich wirkenden Schornsteinen. Für die Viktorianer war diese Veränderung eine große psychologische Herausforderung, und sie reagierten auf die „modernen Zeiten“ mit verstärkter Sentimentalität. Es erscheint uns widersprüchlich, dass sich ausgerechnet die Viktorianer, die ihren neuen Reichtum ja vor allem den Schornsteinen verdankten, sentimentalen Träumereien hingaben. „The Saturday Review“ war in den 1860er Jahren jedoch der Ansicht, man lebe in einem durch und durch sentimentalen Zeitalter.

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Doch obwohl das Landleben als eine Art verlorenes Arkadien gesehen wurde, zogen immer mehr arbeitssuchende Menschen in die Städte. Ihre Hoffnung war es, der Armut auf dem Land zu entkommen. Das Leben in den neuentstandenen Industriestädten wurde jedoch zu einem lebensgefährlichen Experiment. Premierminister Benjamin Disraeli sprach von den „zwei Nationen“, in die sein Land geteilt war, Arm und Reich. Tatsächlich hatten sich die sozialen Probleme in die Städte verlagert.

Schriftsteller wie Charles Dickens oder George Eliot zeigen am besten die Auswirkungen der Industrialisierung auf arme Menschen. In seinem Roman „Harte Zeiten“ beschreibt Dickens die verqualmte Stadt Coketown, die vermutlich Manchester darstellen soll. Hier wird den Bewohnern im wahrsten Sinn des Wortes die Luft zum Atmen genommen. Die hygieni‧schen Verhältnisse waren eine Katastrophe. In der Regel pferchte man Menschentrauben in notdürftig errichtete Häuser. 300 Menschen teilten sich einen Abort, Krankheiten konnten sich folglich schnell ausbreiten. Auch die Arbeitsplätze waren gefährlich. Ganze Familien wurden an Maschinen gesetzt und arbeiteten bis zur Erschöpfung. Da es kaum Sicherheitsvorkehrungen gab, konnte man schnell einen Arm oder ein Bein verlieren. Ohne Einkommen blieb nur noch eine Existenz als Bettler oder das gefürchtete Arbeitshaus. Die in den 1830er Jahren gegründeten Arbeitshäuser lösten die sozialen Probleme kaum. Sie waren menschenverachtende Institutionen, die auf die „heilende Kraft der Erniedrigung“ setzten. Familien wurden bei der Ankunft getrennt, kleine Kinder durften nicht bei ihren Müttern, Männer nicht bei ihren Ehefrauen bleiben. Die Insassen mussten für einen Teller Suppe hart arbeiten. Nur kranke, alte Menschen konnten auf eine bessere Behandlung hoffen; sie galten als „schuldlos“.

Armut wurde bestraft, belohnt wurde wirtschaftlicher Erfolg. London war in den 1840er Jahren das größte Handels- und Finanzzentrum der Welt. Das ständig wachsende Empire bot verlockende Einkommens- und Berufschancen. Wer eine Plantage auf Jamaika betrieb, war trotz gelegent‧licher Aufstände ehemaliger Sklaven weiterhin im Besitz einer Goldgrube. Obwohl der East India Company 1858 das Handwerk gelegt wurde, gab es noch immer unendlich viele Möglichkeiten, durch geschickte Investitionen in Indien (oder Afrika) ein Vermögen zu verdienen.

Auch Erfinder konnten über Nacht reich werden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen viele neue Technologien auf den Markt – die Viktorianer waren technikbegeistert und bis in die 1850er Jahre auf den meisten Gebieten marktführend. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Weltausstellung 1851 den Höhepunkt dieser innovativen Zeiten markierte. Die Zeitgenossen ahnten nicht, dass ihr Monopol bald gebrochen werden würde.

Mit der Great Exhibition in London wollte man den Handel beflügeln, Erfindungen aus der ganzen Welt ausstellen, voneinander lernen (und einander kopieren). Sie wird heute als wichtigstes Vermächtnis Prinz Alberts gesehen. Auch wenn er selbst nicht die Ursprungsidee hatte, hätte das Projekt ohne seine Unterstützung nicht so schnell durchgesetzt werden können. Der kreative Kopf hinter dem Konzept war Henry Cole, der Prinz Albert überredete, der Ausstellung einen internationalen Charakter zu geben…

PD Dr. Karina Urbach

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