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Gottes erwählte Stadt

Johannes Calvin und Genf

Gottes erwählte Stadt
Weil sie unabhängig sein wollten vom Herzog von Savoyen, entschieden sich die Genfer für die Reformation. Und bekamen sie am Ende in der strengen Auslegung von Johannes Calvin, nach der Gott die Menschen schon vor ihrer Geburt zu Heil oder Verdammnis bestimmt hat.

Genf und Calvin: wie Rom und der Papst bildeten diese zwei Namen jahrhundertelang eine Einheit. Sie ist heute gleich zweifach aufgelöst. Durch Zuwanderung aus Mittelmeerländern ist die Mehrheit der Genfer Einwohner am Beginn des 21. Jahrhunderts katholisch. Und mit Genf assoziiert die Welt heute in erster Linie Institutionen der UNO und das Rote Kreuz, allenfalls danach Calvinismus. Dabei war die Stadt an der Rhone zwischen 1541 und 1564 ein Laboratorium der Moderne, dessen Ausstrahlung im Lauf der Jahrzehnte Frankreich, die Niederlande, England und Schottland und schließlich die Neue Welt jenseits des Atlantiks erreichte und tiefgreifend verwandelte. Genf und Calvin: zwei Namen, die für ein Menschheitsexperiment stehen, dessen Wirkungen bis heute fortleben. Für die Anhänger des Reformators Calvin war das Ergebnis vorherbe‧stimmt – Gott wollte es so und nicht anders. Bei nüchterner Betrachtung der erregenden Vorkommnisse, die sich in einem knappen Vierteljahrhundert in der kleinen Republik am See zutrugen, stellt sich die Lage anders dar: Der Ausgang der Kämpfe, die um die Durchsetzung der Reformation ausgetragen wurden, war zweieinhalb Jahrzehnte lang ungewiss. Eigentlich sprach alles gegen einen Sieg Calvins und seiner Partei. Umso dringlicher stellt sich die Frage nach den Gründen, die den unerwarteten Erfolg herbeigeführt haben.

In Sachen Reformation gehörte Genf zu den zögerlichen Orten. Das hatte mit den äußeren und inneren Machtverhältnissen zu tun. Herr der Stadt war de jure ihr Bischof; de facto waren die wichtigsten Machtbefugnisse jedoch an den Herzog von Savoyen übergegangen. Da sich Savoyen – mit seinen Besitzungen im Alpenraum sowie im Piemont ein Pufferterritorium zwischen Frankreich, Spanien und den habsburgischen Erblanden – entschieden für die Beibehaltung des alten Glaubens starkmachte, bedeutete eine Entscheidung für die Reformation zugleich das Votum für einen Kampf um politische Unabhängigkeit. Mit ihr liebäugelten einflussreiche Kreise des Genfer Patriziats, obwohl viele vornehme Familien durch Ämter und Einkünfte eng mit Bischof und Herzog verflochten waren.

Zu diesem Streben nach Autonomie trug um 1530 das autoritäre Gebaren des regierenden Herzogs Karl III. wesentlich bei; selbst die eher bescheidenen Selbstverwaltungsrechte der Gemeinde waren vor seinem herrischen Zugriff nicht sicher. Ermutigt wurden die Vorkämpfer der Loslösung dadurch, dass sich die politische Elite Berns 1528 für die Einführung der Reformation nach dem Vorbild Zwinglis in Zürich entschied. Als die mächtige Republik mit dem namengebenden Bären im Wappen im Januar 1536 den Herzog von Savoyen aus seinen Besitzungen am Genfer See verdrängte und diese als neue Untertanengebiete eroberte, waren die Würfel auch in Genf endgültig gefallen. Formell unabhängig, tauschte die Stadtrepublik an der Rhone die Herrschaft von Herzog und Bischof gegen eine enge Anlehnung an die europäische Großmacht Bern ein, die zeitweise einer neuen, drückenden Abhängigkeit sehr nahe kam. Alle Auseinandersetzungen, die von jetzt an bis über den Tod Calvins hinaus über die Kirchen- und Lebensordnung Genfs ausgetragen wurden, waren mit dem konfliktträchtigen, ja nicht selten gestörten Verhältnis zur übermächtigen „Bärenrepublik“ unauflöslich verwoben.

Kirchlich hatte sich die Stadt an der Rhone nach vielen fehlgeschlagenen Kompromissen einer Reformation zugewandt, die von dem aus der Dauphiné stammenden Prediger Guillaume Farel bestimmt wurde. Farel war ein ebenso wortgewaltiger wie kämpferischer Kanzelredner, doch kein systematischer Theologe. Er verkündete den Genfern die Lehre von der Prädestination, wonach Gott jeden Menschen vor seiner Geburt zu Heil oder Verdammnis vorherbestimmt hat, und dementsprechend das Gerechtwerden durch den Glauben allein eine Frucht der geschenkten Gnade ist. Dadurch verloren gute Werke wie die Sakramente ihre heilswirksame Kraft – Prinzipien, wie sie nach dem Auftreten Luthers und Zwinglis zum Grundstock jeder reformierten Lehre gehörten. Parallel dazu wurde die Messe abgeschafft und der Gottesdienst neu gefeiert. Die beiden einzigen als solche anerkannten Sakramente erfuhren eine grundlegende Umdeutung: Das Abendmahl wurde jetzt als andächtige Erinnerung an den Opfertod Christi sowie als Zeichen der Verheißung gefeiert und die Taufe als Aufnahme in die Gemeinschaft der Gläubigen begangen.

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Private Aufzeichnungen von Genferinnen und Genfern belegen, dass nicht die theologischen Feinheiten, sondern einige große Fragen und die daraus für den Alltag gezogenen Konsequenzen über Annahme oder Ablehnung der Reformation entschieden. Hatte die Kirche bislang die Wahrheit verdunkelt, das heißt das Gotteswort mit rein menschlichen Erfindungen wie der Messe und dem Fegefeuer verdeckt? War das aktive Leben in Familie, Beruf und Gesellschaft gottgefälliger als die Abgeschlossenheit hinter Klostermauern? Und sollte aus dem gemeinsamen Bekenntnis zur gereinigten Lehre eine neue Gemeinde hervorgehen, die der Gemeinschaft der ersten Christen durch Sittenstrenge und Brüderlichkeit nacheiferte? Die Mehrheit der in den Räten stimmfähigen Genfer hatte sich zu einem „Ja“ auf diese Fragen durchgerungen, ohne dass sich die Umrisse der neuen Lebensordnung genauer abzeichneten. So war der Stand der Dinge im Sommer 1536, als Jean Calvin auf Bitten Farels nach Genf kann…

Literatur: Volker Reinhardt, Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf. München 2009.

Prof. Dr. Volker Reinhardt

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