… Während des Zweiten Weltkriegs schien Ostpreußen vor alliierten Bombenangriffen sicher zu sein, so daß sich hier im Herbst 1944 noch ungefähr 200000 Evakuierte aus westlichen Teilen des Deutschen Reichs aufhielten. Hinzu kamen noch etwa 230000 Zwangsarbeiter überwiegend aus der Sowjetunion und Polen, während die meisten ostpreußischen Männer im wehrfähigen Alter in der Wehrmacht Dienst taten.
Am 20. Juli 1944 mißlang das Attentat auf Hitler in seinem Hauptquartier Wolfsschanze im ostpreußischen Rastenburg, einen Monat zuvor hatte die Offensive der Roten Armee begonnen. Bis Juli war die deutsche Ostfront auf einer Länge von 300 Kilometern aufgebrochen, Mitte September standen sowjetische Truppen an der Ostgrenze Ostpreußens und bedrohten erstmals deutsches Reichsgebiet. Schon Ende August war der Mythos vom „Luftschutzkeller des Reiches” zerbrochen: Die britische Royal Air Force hatte die historische Innenstadt Königsbergs mit schweren Luftangriffen zu mehr als 50 Prozent zerstört. Ungefähr 6000 Menschen starben in den Feuerstürmen der Brandbomben, Zehntausende verloren ihr Dach über dem Kopf. Danach wurde es vorübergehend ruhiger. Eine trügerische Ruhe, denn wie in den Augusttagen 1914 begann erneut die Flucht von Deutschen aus Ostpreußen. 1944 hatte Ostpreußen ungefähr 2,4 Millionen Einwohner. Ein Teil von ihnen hatte die Hoffnung auf den „Endsieg” bereits aufgegeben. Schon im Herbst 1944 ließen sowohl zivile als auch militärische Behörden Frauen und Kinder aus den östlichen Gebieten in westliche Kreise der Provinz evakuieren. Das war eine Ausnahme. Der ostpreußische Gauleiter Erich Koch sah ebenso wie seine Kollegen Albert Forster in Danzig-Westpreußen und Karl Hanke in Niederschlesien alle Evakuierungen als Verrat am deutschen Volk an und ließ stattdessen Wälle oder Befestigungsanlagen ausheben, die sich als völlig unnütz herausstellen sollten.
Die offizielle Haltung änderte sich auch nach den Ereignissen in Nemmersdorf nicht. Das ostpreußische Dorf an der Angerapp wurde zum Fanal der Flucht der Deutschen. Am 21. Oktober 1944 erreichten sowjetische Panzereinheiten deutsches Gebiet. Was genau in Nemmersdorf geschah, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Als deutsche Truppen den Ort zwei Tage später zurückeroberten, fanden sie mehr als 20 ermordete Frauen, Kinder und Alte. Wurden alle Frauen vergewaltigt? Kam es zu schaurig-makabren Abschlachtungen, wie Zeugen sie gesehen haben wollen? Joseph Goebbels nutzte das „Massaker in Nemmersdorf”, um den Deutschen die “sowjetische Bestie” zu zeigen. Und auf Erich Koch wirkten die Instrumente des Reichspropagandaministers: Der Gauleiter verbot die Flucht und untersagte alle Evakuierungspläne. Die meisten Ostpreußen bewahrten äußerlich Ruhe, während es im Innern vielfach kochte. Aber ungefähr 500000 Menschen ließen sich nicht beirren; gegen jede Anweisung flüchteten sie bis zum Jahresende Richtung Westen. „Im Grunde genommen hat Nemmersdorf die Fluchtbewegung letztlich ausgelöst. Ansonsten hätten viele gesagt: ‚Ach, was sollen wir im Winter auf die Straße gehen‘ …”: so erklärt der Schriftsteller und Zeitzeuge Arno Surminski die damalige Situation.
Zwischen Ende Oktober 1944 und Mitte Januar 1945 fanden in Ostpreußen keine Kämpfe statt. Ein goldener, weitgehend ruhiger Herbst ging zu Ende, der Winter kam. Die ersten Flüchtlinge, die nach Königsberg, Heiligenbeil oder bis Mohrungen gekommen waren, stoppten und dachten an Rückkehr. Aber dann kam die Rote Armee…
K. Erik Franzen