Wann sind Sie Gorbatschow zum ersten Mal begegnet?
Theo Waigel: Ende 1987, als ich mit Franz Josef Strauß wenige Tage nach Weihnachten nach Moskau flog und wir ein über dreistündiges Gespräch mit Gorbatschow hatten.
Wie war Ihr Eindruck?
Wir trafen einen äußerst lebendigen, klugen Mann, der gute Geschichtskenntnisse besaß, die Außenpolitik beherrschte und auch über Humor verfügte. Als er Strauß fragte, ob der zum ersten Mal in der Sowjetunion sei, und Strauß dann erzählte, wo er im Zweiten Weltkrieg als Soldat unterwegs war, hat ihm Gorbatschow das keinen Augenblick verübelt. Er wusste allerdings, dass Strauß immer ein Gegner der Nazis war. Als er erwähnte, dass 1988 die 1000-Jahr-Feier der Christianisierung Russlands bevorstand, fragte ich, ob es möglich sei, dieses Jubiläum mit einer Wallfahrt zu feiern. Das war ein Wunsch meines Freundes, des Augsburger Bischofs Josef Stimpfle. Gorbatschow lachte und meinte, er habe das nicht zu entscheiden, schließlich seien Regierung und Religion in der Sowjetunion nicht so eng verbandelt wie in Bayern. Es kam dann aber sogar zu der Wallfahrt.
Ließen sich damals künftige Chancen erahnen?
Es war schon eine andere Atmosphäre spürbar, auch in seiner Bemerkung, über die Einheit Deutschlands werde einmal die Geschichte entscheiden. Bis dahin hatte es ja geheißen, darüber sei schon entschieden. Da merkte man eine Offenheit des Denkens, völlig anders als zwei Jahre zuvor, als ich mit einer Bundestagsdelegation in Moskau war, da war alles verhärtet, es gab kein offenes Gespräch. Mit Ausnahme der kulturellen Veranstaltungen war das eigentlich trostlos.
Muss man nicht dennoch sagen, dass Gorbatschow mit allem, was er wollte, gescheitert ist?
Er ist nicht gescheitert. Man könnte sagen: Es missriet ihm alles zum Guten. Er wollte etwas anderes, eine demokratischere Sowjetunion, einen Kommunismus mit humanem Antlitz, wo auch die Freiheits- und Persönlichkeitsrechte geschützt worden wären. Er war sich nicht darüber im Klaren, wie marode das Gefüge der Sowjetunion schon war. Auch ein Mann wie Putin hätte nie und nimmer das zusammenhalten können, was schon damals nicht mehr zusammengehörte. Gorbatschow ist ganz sicher nicht gescheitert, weil Europa und die Welt sich durch ihn entscheidend geändert haben, und zwar zu ihrem Vorteil.
Hätte er mehr Unterstützung des Westens gebraucht?
Was Deutschland angeht – wir haben sehr viel getan. Wir haben damals unter anderem Garantien abgegeben für die Sowjetunion in einer Größenordnung von über 100 Milliarden Mark – wobei ich sagen muss: Wir haben alle Kredite, die wir gegeben haben, zurückbekommen. In Europa waren es nur Deutschland, Österreich und Italien, die etwas dafür getan haben, dass der Zerfall der Sowjetunion friedlich verlief, während von Amerika, Großbritannien und anderen hauptsächlich freundliche Worte kamen.
Gorbatschows Lebensleistung in einem Satz?
Er hat zum Frieden Europas und zum Frieden in der Welt unendlich viel beigetragen, und Deutschland hat ihm die friedliche Wiedervereinigung und die Souveränität der geeinten Nation zu verdanken.
Interview: Dr. Winfried Dolderer
Theo Waigel geb. 1939, deutscher Politiker (CSU) und Anwalt. Von 1988 bis 1999 CSU-Vorsitzender, von 1989 bis 1998 Finanzminister unter Bundeskanzler Helmut Kohl. Seit 2009 Ehrenvorsitzender der CSU.
Michail Gorbatschow geb. 1931, seit März 1985 Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU (bis August 1991) und letzter Staatspräsident der So‧wjet‧union (bis Dezember 1991). Hatte maßgeblichen Anteil an der Beendigung des Kalten Krieges.