Zwischen ausufernden Wäldern und gefährlich-unbefestigten Wegen im Umfeld armseliger Siedlungen, umgeben von Hunger und Kälte, von Krankheit und täglich drohendem Tod, in einer Welt ohne schriftliche Rechtssatzungen und arbeitsfähiges Gerichtswesen, ohne funktionierenden Polizei- und Ordnungsapparat, innerhalb eines schul- und bildungsfreien Raumes, zwischen bestenfalls oberflächlich christianisierten Stammesangehörigen und vom Christentum noch kaum berührten Anhängern der Germanengötter – in diesem Umfeld verrichtete der heilige Bonifatius seine christliche Verkündigung als frühmittelalterlicher Grenzgänger, ja als Wanderer zwischen den Welten. Das Überschreiten von geographischen und ethnischen Grenzen sowie das Verbinden von irdischen und himmlischen Welten gehörten zum Kern seines Lebensprogramms.
Als Kind war Bonifatius – der damals noch Wynfreth hieß – von seinen Eltern in ein südenglisches Kloster geschenkt worden, weil sie sich von der Gabe des Sohnes an Gott und die Mönche für ihre Familie irdische und himmlische Wohlfahrt aus Gottes Hand versprachen. Bonifatius seinerseits war sein Lebtag lang davon überzeugt, daß er aufgrund dieser göttlichen Fügung von Kindesbeinen an eine heilige Forderung verwirklicht hatte, die im Frühmittelalter geradezu als Ausweis für die Höchstform christlichen Lebens galt: Wer entsprechend der Weisung Jesu seine Blutsfamilie und seine Heimat verließ, nahm freiwillig jene Buße auf sich, die im frühen Mittelalter ansonsten allein Schwerverbrechern auferlegt wurde; denn die zwangsweise Ausgliederung aus dem Familienclan machte die Ausgestoßenen zu „toten Lebenden“ und bedeutete für sie in einer ansonsten lebensfeindlich-ungeschützten Umwelt bisweilen sogar ihren leiblichen Tod.
Wer diese Weise der Buße christ?licherseits freiwillig auf sich nahm, versprach sich davon einen himmlischen Vorteil mit Blick auf sein ewiges Leben. Damit ahmte Bonifatius um des hundertfältigen himmlischen Lohnes willen auf unblutige Weise zugleich jenen Lebensverzicht nach, den die Märtyrer der spätantiken Christenverfolgungen noch in blutiger Weise zur Erlangung des Himmelreiches auf sich genommen hatten.
Über fast 40 Jahre hinweg verwirklichte Bonifatius die Abkehr von seiner Blutsfamilie in den geistlich-klösterlichen Familien von Exeter und Nursling: anfangs als Kindermönch, dann als Lehrer seiner monastischen Brüder, schließlich als Abt. Erst daraufhin entschied er sich, die Abkehr von der Blutsfamilie auf andere Weise zu verwirklichen – nämlich durch das Verlassen seiner angelsächsischen Heimat in Richtung Kontinent. So verbrachte er seine zweite Lebenshälfte in der Welt der Friesen, der Hessen, der Thüringer und der Bayern, weiter entfernt denn je von seinen Blutsverwandten und nunmehr beseelt von dem Ziel, als wandernder Christus-Verkündiger die Weltdeutung der Germanen durch die Botschaft des Evangeliums abzulösen.
Bereits seit der Mitte des 7. Jahrhunderts hatten sich die Christen Englands während einer Synode (Whitby 664) dem Apostel Petrus in geradezu grenzüberwindender Weise versprochen; denn in jenen Zeiten, denen die (erst in der europäischen Neuzeit erfundene) Religionsfreiheit noch unbekannt war, billigte man dem Apostelfürsten gegenüber den Vertretern anderer christlicher Ritentraditionen einen entscheidenden Vorzug zu: Aufgrund der ihm verliehenen Schlüssel des Himmelreichs (Mt 16, 18?–19), die die Menschen des frühen Mittelalters nicht im biblischen Sinn bildhaft-metaphorisch, sondern real-dinglich verstanden, galt er als der Himmelspförtner. Die von ihm favorisierte Liturgie wurde mit den Traditionen am Ort seines Martyriums in Rom identifiziert. Allein wer diesen Gepflogenheiten folgte, durfte – so glaubte man – auf den Einlaß in das Paradies hoffen. – Tatsächlich sah man den Apostel Petrus in Rom, am Ort seines Todes, gewissermaßen so gegenwärtig wie sonst nirgendwo: erstens in seinem Grab, zweitens in seinem Nachfolger, dem jeweiligen Papst, drittens in dem auf Petrus zurückgeführten und an seinem Grab gefeierten römischen Ritus.
Während seiner Zeit als Mönch in Südengland hatte Bonifatius gelernt, was es im Alltag konkret bedeutete, das Klosterleben mit einer geistlichen Rückbindung zu führen, die über den Ärmelkanal und die Alpen bis an den Ort des Apostelfürsten reichte. Auch nachdem sich Bonifatius für die Mission auf dem Kontinent entschieden hatte, ging es ihm vor allem darum, die Völker Germaniens zu weiteren Stätten der Gegenwart Petri zu formen. Aus diesem Grund überzog er deren Gebiete mit einem durch viele Knotenpunkte zusammengehaltenen Netz. Jeder dieser Knoten- und Kommunikationspunkte stand ihm für die besondere Lebendigkeit des Apostels Petrus: Kirchen- und Klosterneubauten mit Reliquien des Apostelfürsten, sah man den Heiligen doch gleichfalls in seinen Knochen lebendig-gegenwärtig; die tägliche Feier der Liturgie entsprechend den minutiös auf Petrus zurückgeführten rituellen Gebräuchen; das möglichst häufige Gebet eines jeden Christen zu Petrus als dem Himmelspförtner; regelmäßige Wallfahrten aus den Gebieten nördlich der Alpen nach Rom; der eigene bischöfliche Kontakt zum jeweiligen Nachfolger Petri und der Gehorsam aller Christen gegenüber dem amtierenden Papst sowie gegenüber den von ihm beauftragten Vertretern vor Ort. Als Inbegriff höchster Lebensqualität galten Bonifatius und seinen christlichen Mitstreitern damals nicht jene Orte, die über eine gute Infrastruktur mit Handwerkern oder Händlern verfügten, sondern solche, die sich in unmittelbarer Nähe zu Heiligtümern und heiligen Menschen befanden. Die Verkündigung des christlichen Gottes war für Bonifatius im Kern gleichbedeutend mit dem Einsatz zugunsten einer völkerverbindenden „Petrifizierung“ des Abendlandes; idealiter sollten alle Orte, alle Zeiten und alle Menschen der weltlichen Profanität durch die – Heiligkeit verkörpernde – Gegenwart Petri entzogen werden. So glaubte Bonifatius die christlich gesonnenen Menschen, allein aufgrund der Heiligkeit versprechenden Orientierung am Apostel Petrus in irdischer Perspektive wie im Blick auf die Erlangung des himmlischen Lohnes, optimal abgesichert.
Um seine Mithilfe bei der „Petrifizierung“ der Friesen zu gewinnen, unterstützte Bonifatius seit 718 Erzbischof Willibrord von Utrecht. Von 721 an missionierte Bonifatius, jeweils abgesichert durch die Errichtung klösterlicher Zellen, unter dem Volk der Hessen, von 725 an unter den Thüringern und seit etwa 736 unter den Bayern. Nicht zuletzt konkretisierte sich sein Programm der transalpinen Rückbindung dieser Germanenstämme in drei Rom-Reisen: 719 erhielt er vom Papst den Namen Bonifatius – beredter Hinweis auf einen frühchristlichen Heiligen, der als Petrus-Verehrer in Kilikien das Martyrium erlitten hatte und dessen Leichnam nach Rom gebracht wurde. Zugleich wurde Bonifatius vom Papst zum Missionar Germaniens erhoben. Während seiner zweiten Rom-Reise 722 empfing er vom Nachfolger Petri die Bischofsweihe und leistete diesem jenen Gehorsamseid, wie er eigentlich nur für die um Rom herum gelegenen Bischofssitze vorgesehen war. Seine dritte Rom-Reise, bei der er sogar mehrere Monate in der Ewigen Stadt blieb, trug ihm die Ernennung zum päpstlichen Legaten für Germanien ein, nachdem er bereits 732 vom Papst zum Erzbischof – freilich ohne festen Bischofssitz – ernannt worden war. So geben be-reits die äußeren Lebensstationen zu erkennen, wie sehr Bonifatius ein Mann der nahen und der weiten Wege war; ein Brückenbauer, der Clan- und Stammesgrenzen überwand, um dem Apostel Petrus den Weg zu bereiten.
Prof. Dr. Hubertus Lutterbach