Wie haben Sie Singer entdeckt?
Omer Meir Wellber: In Israel kennen wir ihn natürlich. Ich habe von ihm ein wenig in der Schule gelesen, aber vor allem war er in meiner Familie relativ wichtig. Sein Roman „Familie Moschkat“ war ein Lieblingsbuch meiner Mutter. Richtig entdeckt habe ich ihn allerdings erst neuerdings. Seit einem halben Jahr lese ich nur noch Singer, mittlerweile zwölf oder 13 Bücher. Man findet darin eine unglaubliche Welt.
Was hat Sie so beeindruckt?
Ich hatte früher die Vorstellung, Singers Thema sei die Welt des jüdischen Schtetl in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg und nichts anderes. So sehen wir ihn generell in Israel, als Erzähler vergangenen jüdischen Lebens. Aber das ist falsch. Singer hat zwar auf Jiddisch geschrieben, aber über absolut moderne Themen. In „Familie Moschkat“ oder im „Zauberer von
Lublin“ geht es tatsächlich um die jüdische Welt vor dem Krieg. Dennoch ist sein Themenspektrum viel breiter.
Zum Beispiel?
Er hat eine sehr offene Haltung zu Sex und Beziehungen von Männern und Frauen. Das war für mich eine wirklich große Überraschung. Wir diskutieren heute über „Polyamorie“, also das gleichzeitige Führen mehrerer Liebesbeziehungen, und derlei –, und Singer, dieser angeblich traditionelle Autor, hat über solche Beziehungskonstellationen schon um 1950 geschrieben, in einer ganz klaren und modernen Sprache. Und das auf Jiddisch! Dabei hatte er die Herausforderung zu bewältigen, in dieser traditionellen Sprache mit ihrem relativ begrenzten Vokabular moderne Sachverhalte zu erfassen.
Finden Sie bei ihm Inspiration für Ihr musikalisches Schaffen?
Ich lese viel, und immer hat die jeweilige Lektüre zu tun mit dem, was ich gerade dirigiere. Als ich jetzt „Feinde, die Geschichte einer Liebe“ gelesen habe – darin geht es um eine Familie traumatisierter Holocaust-Überlebender in New York –, dirigierte ich den ersten Akt der „Walküre“. Das Thema des posttraumatischen Verhaltens passt zu Wagner. Aber natürlich ist Jiddisch selbst auch eine musikalische Sprache.
Stand Singer am Ende einer Tradition, oder wirkt sein literarisches Vorbild weiter?
Es gibt in Israel ein jiddischsprachiges Theater, das enormen Zuspruch hat. Die Vorstellung, Jiddisch sei schon tot, trifft so nicht zu. Singer selbst hat einmal einem Journalisten, der ihn fragte, warum er eine „quasi tote“ Sprache benutze, geantwortet, die Juden hätten ein feines Gespür für den Unterschied zwischen „tot“ und „quasi tot“. Er verstand, dass er vielleicht der Letzte war. Aber auch der Letzte hatte eine Bedeutung.
Interview: Dr. Winfried Dolderer
Omer Meir Wellber geb. 1981, ist ein international erfolgreicher israelischer Dirigent. Engagements in Deutschland unter anderem an der Staatsoper Unter den Linden (Berlin), am Gewandhausorchester (Leipzig), an der Semperoper (Dresden) und beim Deutschen Symphonie-Orchester (Berlin).
Isaac Bashevis Singer (1902 –1991), jüdisch-amerikanischer Schriftsteller, einziger Literaturnobelpreisträger jiddischer Sprache (1978). Geboren als Sohn eines Rabbiners im damals russischen Polen. Seit 1935 in New York, 1943 US-Bürger. Werke unter anderem „Die Familie Moschkat“ (1950), „Der Zauberer von Lublin“ (1960).