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Eine tragische Heldin

Bertolt Brecht und die Judith von Shimoda

Eine tragische Heldin
Die anrührende Geschichte um die Prostituierte Okichi, die sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts für ihre Heimatstadt Shimoda geopfert haben soll, ist in Japan bis heute sehr populär. Und dies, obwohl dahinter mehr Dichtung als Wahrheit steckt. Bertolt Brecht machte aus dem Stoff sogar ein Drama, das allerdings Fragment blieb.

Nach seiner Flucht vor den Nationalsozialisten und vor seiner Aufnahme in die Vereinigten Staaten verbrachte Bertolt Brecht drei Monate, von Juli bis Oktober 1940, in Finnland. Er lebte in dieser Zeit auf dem Landgut der Schriftstellerin Hella Wuolijoki und ließ sich von ihr zur Bearbeitung finnischer Themen anregen. Das „Volksstück“ „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ entstand auf diese Weise. Brechts Gastgeberin machte ihn außerdem auf ein Bühnenstück des japanischen Schriftstellers Yamamoto Yuzo aufmerksam, für das sie die Übersetzungsrechte erworben hatte. Es spielt im Jahr 1857 in der Provinzstadt Shimoda und handelt von der Tragödie einer Prostituierten, die von den örtlichen Behörden dazu gedrängt wurde, dem ersten amerikanischen Konsul in Japan zu Diensten zu sein, und daran schließlich zugrunde ging. Zunächst unwillig, da sie mit einem „haarigen Barbaren“ nichts zu tun haben wollte, lebte sie eine Zeitlang im Konsulat und pflegte Townsend Harris (so hieß der Barbar), als er krank wurde. Heimlich, weil illegal, beschaffte sie ihm Kuhmilch und bewirkte damit seine Gesundung. Auch zu dem Dolmetscher Henry Heusken fasste sie damals Vertrauen. In der Öffentlichkeit wurde sie gleichwohl als „Ausländerhure“ beschimpft. Sie konnte in der Gesellschaft nicht mehr Fuß fassen, verfiel dem Alkohol und nahm sich schließlich das Leben. Ihr Name war Okichi.

Yamamotos Schauspiel basierte auf einer rührseligen Legende, die zeigen sollte, wie ein Leben verfällt. Denn ein tragisches Schicksal hat in Japan schon immer die Nachwelt bewegt und auch einem gescheiterten Leben eine besondere Würde verliehen. Außerdem hatte sich Okichi für die Interessen ihres Landes geopfert. Sie taugte also zur Heldin. Okichi wurde mit Gedichten und Liedern besungen, im Kabuki-Theater gefeiert, in Bilderserien und auf Postkarten gerühmt. Um ihr Leben und Leiden zu vergegenwärtigen, wurde eine Reihe von Erinnerungsstätten ausfindig gemacht, vor allem in und um das Städtchen Shimoda. In den 1930er Jahren galt die Legende von Okichi als die populärste Geschichtserzählung in Japan.

Auch Yamamoto Yuzo leistete einen Beitrag dazu. Allerdings schrieb er kein weiteres Rührstück, sondern verband gesellschaftspolitische Absichten mit Okichis Geschichte. Er gehörte zu einer Gruppe von Literaten, die in ihren Bühnenstücken die Wirklichkeit des japanischen Lebens mit all seinen Konflikten, Widersprüchen und Verwerfungen ungeschminkt zur Anschauung bringen wollten. Geschult an Gerhart Hauptmanns Naturalismus und August Strindbergs Seelendramen, schildert er den Untergang seiner Heldin zwischen den Forderungen des Staates, den Gemeinheiten des Publikums und der eigenen Hoffnung auf Glück. Besondere Aufmerksamkeit ist ihrem Schicksal als Frau gewidmet. Im letzten Akt lässt Okichi einen ihrer Peiniger wissen, dass nicht nur sie, sondern alle Frauen von den Männern belogen, betrogen und in den Schmutz gezogen würden. Als sie sich ihm in den Weg wirft, stößt er sie mit einem Fußtritt die Treppe hinunter.

Auch in Japan wurde nach der Modernisierung des Landes die Rolle der Frau in der Gesellschaft diskutiert. Feministische Vereinigungen und Zeitschriften entstanden. Gleiche Rechte (vor allem das Wahlrecht, aber auch in Wirtschaft und Erziehungswesen) wurden gefordert. Das Ideal der „Neuen Frau“ stand den Reformern vor Augen. Konservative Bürger dagegen fühlten sich durch das Auftreten sogenannter „Moga“ (Abkürzung von modan garu, englisch: modern girl) provoziert. Es lag somit nahe, den Gegenstand auch literarisch, in Form eines Dramas, zu behandeln. Okichi wurde in Yamamotos Darstellung zum Beispiel eines Frauenlebens vor der Emanzipation. Folgerichtig überschrieb er das Drama: „Nyonin Aishi“ – „Die tragische Geschichte einer Frau“.

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Bertolt Brecht ließ sich von Hella Wuolijoki überzeugen, dass das Stück auch für europäische Leser interessant sei. Er kannte es aus einer mäßigen englischen Übersetzung, fand aber die Handlung sehr eindrucksvoll und hielt sich als Bearbeiter zurück. Er fasste einige Bilder zusammen, nahm ein paar Umstellungen vor und fügte mit einer einzigen Szene (in der die gealterte Okichi mit ihrer eigenen Legende konfrontiert wird) etwas völlig Neues hinzu. Außerdem schuf er aus zehn Zwischenspielen, einem Vor- und einem Nachspiel eine Rahmenhandlung, mit der das Geschehen auf der Bühne verfremdet und dessen eigentlicher Sinn erklärt werden sollte. Für Brecht bestand er darin, dass Okichis Heldentat nicht belohnt wird, dass Patriotismus sich in Wirklichkeit nie lohnt. „Der Patriotismus ist kein Geschäft – für die Patrioten. Er ist ein Geschäft für andere Leute“, lässt Brecht einen der Akteure erklären. Sofort nach der Lektüre des japanischen Dramas brachte er Okichi mit der biblischen Judith in Verbindung. Auch sie hatte ein Opfer gebracht, als ihr Volk und ihre Heimat bedroht wurden. Brecht wollte zeigen, wie es den Helden nach ihrer Heldentat erging. Yamamotos Stück gab ihm Gelegenheit dazu. Er nannte seine Bearbeitung: „Die Judith von Shimoda“.

Okichis Geschichte konnte also – wie in Shimoda – als patriotisches Rührstück, bei Yamamoto Yuzo als Plädoyer für die Frauenemanzipation oder bei Bertolt Brecht als ideologiekritische Parabel verstanden werden. Wie aber sah die historische Wirklichkeit aus? Was war im Jahr 1857 geschehen, das später so vielfältige Deutungen plausibel scheinen ließ? Welche Rollen spielten die Akteure tatsächlich? Die drei Hauptpersonen haben wirklich gelebt und sind in einem bedeutenden historischen Moment aufeinandergetroffen. Townsend Harris (1804–1878) stammte aus New York und hatte sich als Kaufmann und Kommunalpolitiker einen Namen gemacht. Unternehmungen im Indischen und im Pazifi‧schen Ozean waren jedoch desaströs gescheitert. Seitdem strebte er eine Stellung im diplomatischen Dienst der Vereinigten Staaten an. Durch gute Beziehungen begünstigt, wurde er zum ersten amerikanischen Generalkonsul in Japan berufen.

Commodore Matthew Perry hatte im März 1854 mit seinen „schwarzen Schiffen“ und deren Kanonen die Öffnung des Landes erzwungen. Aber noch war kein Handels-, sondern nur ein Freundschaftsvertrag abgeschlossen und außerdem die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vereinbart. Harris war ein ehrgeiziger Mann, der glaubte, in seinem bisherigen Leben noch nichts wirklich Nützliches und Ehrenvolles erreicht zu haben. Mit dem Abschluss eines Handelsvertrags und der Erschließung des japanischen Marktes für amerikanische Waren hoffte er, seinen Platz in der Geschichte finden zu können. Er setzte sich selbst unter Erfolgsdruck und machte sich damit das Leben schwer.

Harris’ Aufgabe war an sich schon schwierig genug. Perry und seine japanischen Verhandlungspartner hatten sich auf das Städtchen Shimoda als Sitz des amerikanischen Konsuls geeinigt. Exponiert auf einer Landzunge zwischen Edo (dem heutigen Tokio) und dem Handelszentrum Osaka gelegen, hatte es für die Versorgung der Hauptstadt eine gewisse Bedeutung. Doch die Bucht (von einem Hafen wollte Harris nicht sprechen) bot nur wenigen größeren Schiffen Platz und war außerdem von Edo viel zu weit entfernt. Die japani‧sche Regierung war nach wie vor entschlossen, die Öffnung des Landes in Grenzen zu halten und die Anwesenheit von Ausländern auf wenige, zudem abgelegene Orte zu beschränken: Nagasaki im Süden, Hakodate im Norden und eben Shimoda. Die Öffnung Edos oder gar Kiotos, wo der Tenno residierte, schien völlig ausgeschlossen.

Sogar in Shimoda wurde Harris auf Abstand gehalten. Vom ersten Tag an fühlte er sich an den Rand gedrängt und isoliert. Die Verhandlungen mit den örtlichen Amtsträgern und den Vertretern der Regierung in Edo waren zäh. Was in der Hauptstadt geschah, wie die Schogunatsregierung außenpolitisch zunehmend unter Druck geriet und innenpolitisch sich die Kräfte verschoben, bekam Harris in Shimoda nicht mit. Da er auch aus Washington monatelang nichts mehr hörte und ein amerikanisches Kriegsschiff nicht zum vereinbarten Zeitpunkt eintraf, fühlte er sich zunehmend vereinsamt und auf verlorenem Posten. Das Tagebuch, das er führte, ist ein Dokument der Verzweiflung und Frustration.

Anfangs beobachtete er das Leben und den Alltag der japanischen Bevölkerung mit viel Sympathie. Er hatte Zeit für ausgedehnte Spaziergänge, erfreute sich an der reizvollen Landschaft, den Spielen der Kinder und der Höflichkeit der Erwachsenen. Sogar die japanische Sprache wollte er lernen. Doch nach einigen Wochen kehrte sich seine Stimmung in ihr Gegenteil um. Der Fortschritt der Verhandlungen war so gering, dass er hinter jeder Verzögerung eine Absicht, hinter jeder Schwierigkeit eine Verschwörung, hinter jeder unbefriedigenden Erklärung eine Lüge vermu‧tete. Die Japaner seien allesamt geldgierig, doppelzüngig und nicht zu durchschauen. Höflichkeit, Schmeichelei, Falschheit und Lüge – das eine gehe in das andere über. Manchmal hatte Harris guten Grund, seinen Gesprächspartnern zu misstrauen. Aber oft waren seine Vorwürfe maßlos und wurden den schwierigen Umständen nicht gerecht…

Prof. Dr. Folker Reichert

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