Wie und wann sind Sie auf Wilhelm von Humboldt gestoßen?
Josef Kraus: Weder in der Schule noch im Studium, noch in der Referendarausbildung, obwohl Humboldt in der Lehrerbildung generell eine große Rolle spielen müsste. Erst als ich mich viel später als Bundesvorsitzender der „Jungen Gymnasiallehrer“ in die Bildungspolitik hineingedacht habe, ist mir bewusst geworden, dass unsere heutigen Gymnasien und Universitäten ohne Wilhelm von Humboldt nicht denkbar sind.
Was hat Sie an ihm beeindruckt?
Seine Idee einer breiten Allgemeinbildung. Seine Biographie, die Wechselfälle seines Lebens. Seine geistige und politische Unabhängigkeit, mit der er, der aus einem sehr wohlhabenden Haus kam, sich freilich auch nicht schwertat. Was mich ebenfalls sehr beeindruckt hat, war seine Kenntnis so vieler unterschiedlicher Sprachen. Er war der erste Erforscher des Baskischen, er hat Ureinwohnersprachen Amerikas und Asiens studiert und beherrscht – ein Sprachgenie ohnegleichen.
Sprachforscher, Staatsmann, Bildungsreformer – in welcher Rolle finden Sie ihn am bedeutendsten?
Zunächst natürlich im Bereich der Bildungspolitik als Reorganisator von Gymnasien und Hochschulen. Seine Vorstellung einer „übernützlichen“, also nicht allein an Berufserfordernissen orientierten Bildung. Ein Aspekt, den ich selber erst in jüngerer Zeit entdeckt habe, ist Humboldts Bedeutung als Theoretiker des Liberalismus, seine gigantische Schrift „Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“, die er als 25-Jähriger verfasste. Das finde ich eine hochaktuelle Schrift. Leider ist sie auch Politikern des liberalen Lagers unbekannt, obwohl sie deren Grundsatzprogramm sein könnte.
Inwiefern hochaktuell?
Humboldt wendet sich gegen einen allmächtigen paternalistischen Staat. Für ihn hat der Staat den Rahmen innerer und äußerer Sicherheit zu schaffen. Alles andere überlässt er der Eigenverantwortung der Bürger.
Humboldts Ideal war der des Griechischen kundige Tischlermeister…
Das ist ein hoher Anspruch, aber keiner, der sich nicht verwirklichen ließe. Wenn ich mir den Bereich der beruflichen Bildung anschaue: Hier spielen Persönlichkeitsbildung, Allgemeinbildung durchaus eine Rolle. Im Fächerkatalog der Berufsschule kommen auch Deutsch, Religion, Ethik, Geschichte und Politik vor, nicht nur praktische Fächer. Das kommt der Vorstellung Humboldts nahe.
Was ist von ihm in unserer Gesellschaft noch präsent?
Leider immer weniger. In seiner Schrift über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates benutzt er den Begriff der „proportionierlichsten Bildung“. Er meint damit eine möglichst breite Allgemein- und Persönlichkeitsbildung. Dieses Verständnis ist in Deutschland seit 20 Jahren auf dem Rückzug.
Interview: Dr. Winfried Dolderer
Josef Kraus geb. 1949, Bildungsexperte, Publizist, von 1987 bis 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Werke unter anderem „Der Pisa-Schwindel“ (2005) und „Helikopter-Eltern“ (2013).
Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835), Gelehrter, Staatsmann, Bildungsreformer, Gründer der Berliner Universität. Seit 1802 preußischer Gesandter in Rom; 1809/10 Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium. Seit 1810 Gesandter in Wien, London, Frankfurt. Schied 1819 aus Protest gegen antiliberale Repression aus dem Staatsdienst aus.