In Ludwig Tiecks Mittelalter-Roman „Franz Sternbalds Wanderungen“ (1798) schildert der „alte Maler“ seinem jungen Berufskollegen Franz, was ihn zum Malen inspiriert hat: „Wenn ich nun manchmal im Schein der Abendsonne vor meiner Hütte sitze …, dann rauschen oft die Bildnisse der Apostel, der heiligen Märtyrer hoch oben in den Bäumen, sie sehen mich mit all ihren Mienen an, wenn ich zu ihnen bete, und fordern mich auf, sie abzuzeichnen. Dann greife ich nach Pinsel und Palette, und mein bewegtes Gemüt, von der Inbrunst zu den hohen Männern, von der Liebe zur verflossenen Zeit ergriffen, schattiert die Trefflichkeiten mit irdischen Farben hin, die in meinem Sinn, vor meinen Augen erglänzen.“
Tatsächlich werden im Arbeitsalltag von Künstlern im Mittelalter und in der frühen Neuzeit atmosphärische Lichterscheinungen und die Liebe zur Vergangenheit kaum eine Rolle gespielt haben. Wie bei Schreinern, Seilern oder Schustern bestimmten so prosaische Angelegenheiten wie Materialbeschaffung, Qualitätssicherung, Koordination der Arbeitsabläufe sowie die Sicherung der Auftragslage und schlichtweg Fleiß die Bedingungen des künstlerischen Arbeitens. Auch waren in der Regel mehrere Mitarbeiter an der Entstehung eines Kunstwerks beteiligt, entweder um eine ökonomische Arbeitsweise oder eine dem Material entsprechende Behandlung zu gewährleisten. Vor allem jedoch schufen die Künstler nicht aus eigenem Antrieb heraus, sondern stets im Auftrag eines Auftraggebers, der aus Kleriker-, Adels- und gegen Ende des Mittelalters auch aus Bürgerkreisen stammte. Die großen gotischen Kathedralen, der Genter Altar oder die berühmten Stundenbücher der Brüder Limburg wären ohne die Personen, die sie in Auftrag gaben, nie entstanden.
Die Vorstellung vom genialen, unverstandenen Künstler, der in einem stillen Kämmerlein auf die richtige Stimmung zum Malen wartet, ist eine Erfindung der Romantik. Allerdings wäre es ein Irrtum, den mittelalterlichen Künstler zum gewöhnlichen Handwerker abzustempeln. Originalität und Ausdruckskraft mittelalterlicher Kunstwerke weisen weit über das rein Handwerkliche hinaus.
Bis zum Aufblühen der Städte befand sich der Arbeitsplatz von Künstlern überwiegend in Klöstern, den Keimzellen des geistigen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens. In ihren Werkstätten wurde sowohl für den Eigenbedarf als auch im Auftrag anderer kirchlicher und weltlicher Oberhäupter gearbeitet. Der wirtschaftliche Aufschwung der Städte lockte dann zunehmend auch Künstler in die neuen Zentren, wo sie ihre eigenen Werkstätten und Läden eröffneten. Zusammen mit den herkömmlichen Handwerkern schlossen sie sich Zünften – also berufsspezifischen Vereinigungen – an, die die Bedingungen des Handwerks, die Ausbildung sowie die Qualitätssicherung regelten.
Zu den schönsten, künstlerisch aufwendig hergestellten Werken in klösterlichen Werk‧stätten zählen Bücher für den Gottesdienst. Sie konnten sehr prächtig ausgestattet sein; an ihrer Herstellung beteiligten sich mehrere Spezialisten. Pergamenter, Schreiber, Buchmaler, Goldschreiber und Buchbinder waren darauf angewiesen, Hand in Hand zu arbeiten. Bevor die eigentliche Arbeit begann, wurde das Layout festgelegt. Dann wurden die Pergamentblätter zu Dreier- oder Viererlagen zusammengelegt und entsprechend der geplanten Bild-Text-Verteilung vorbereitet. Noch heute lassen sich manchmal die Hilfslinien erkennen, die in das Pergament eingeritzt wurden.
In der Regel ging das Pergament zunächst durch die Hände der Schreiber. Da es sich bei den herzustellenden Büchern meist um Abschriften bereits vorhandener Texte handelte, konnte die Kopierarbeit gut aufgeteilt werden. Man verteilte die Pergamentlagen einfach auf mehrere Hände, so dass mehrere Schreiber gleichzeitig an einem Buch arbeiten konnten. Die für den Bildschmuck reservierten Stellen ließen sie für die Maler frei. Einmal gemachte Fehler waren fatal. Es gab keine andere Möglichkeit, sie zu entfernen, als sie mit einem scharfen Messer aus dem robusten Pergament auszukratzen. Als Arbeitsgerät diente den Schreibern ein einfacher, zugeschnittener Gänsekiel. Ihre Tinten mussten sie in einem aufwendigen Verfahren selbst herstellen. Die farbige Flüssigkeit bewahrten sie in verschließbaren Rinderhörnern auf, die in Vertiefungen des Schreibpults gesteckt werden konnten.
Die Maler benutzten selbstgemachte Pinsel aus feinen Tierhaaren. Auch sie konnten ihre Farben nicht fertig kaufen, sondern mussten sie jeweils frisch aus pulverisierten Farbpigmenten und Bindemittel „anreiben“. Dass die Maler ihrer Phantasie nicht freien Lauf lassen konnten, zeigen die schriftlichen Anweisungen in der unvollendet gebliebenen Bibel (1150/1170) für die Kathedrale von Winchester. Für die Gestaltung einer Initiale wird darin etwa verlangt: „Mache Salomo … mit ausgebreiteten Händen zum Herrn …“ Der mittelalterliche Buchmaler ließ sich von bereits bestehenden Bildern zu ähnlichen Darstellungen leiten. In späterer Zeit entstanden auch Musterbücher für den allgemeinen Gebrauch, die konkrete Vorlagen boten. Dazu gehört das Reiner Musterbuch aus dem Zisterzienserstift Rein bei Graz (13. Jahrhundert). Im sogenannten Göttinger Musterbuch aus dem 15. Jahrhundert wird sogar Schritt für Schritt erklärt, wie etwa bestimmte Ranken gemalt werden sollten.
Davon, dass die Schreibarbeit oft Knochenarbeit war, zeugen gelegentlich Bemerkungen in den Manuskripten. „… O wie schwer ist das Schreiben: es trübt die Augen, quetscht die Nieren und bringt zugleich allen Gliedern Qual. Drei Finger schreiben, doch der ganze Körper leidet …“, klagt der Schreiber eines westgotischen Rechtsbuchs im 8. Jahrhundert. Dagegen hatte es der Schreiber Hildebertus offenbar komfortabler. Auf einer Miniatur aus dem 12. Jahrhundert empört er sich nur über eine lästige Maus, die ihm sein Mittagessen stibitzt. Sein Kollege Everwinus hockt derweil ungerührt auf dem Boden und malt Ranken auf sein Pergament…
Dr. Sabine Lata