„Preußen hat seit fünfzig Jahren keinen großen Krieg geführt; seine Armee ist alles in allem eine Friedensarmee mit der Pedanterie und Schablonenmäßigkeit, die allen Friedensarmeen eigen sind. Zweifellos ist in der letzten Zeit, besonders seit 1859, viel getan worden, um davon loszukommen; doch die seit vierzig Jahren herrschenden Gewohnheiten sind nicht so leicht auszurotten …” Mit diesen vernichtenden Worten beschrieb der bekannte Militärschriftsteller Friedrich Engels am 20. Juni 1866 im “Manchester Guardian” die seines Erachtens nur geringen Chancen der preußischen Armee im innerdeutschen “Bruderkrieg”, in dem bereits wenige Tage später Preußen und seine wenigen norddeutschen Verbündeten gegen Österreich, ganz Süd- und den größten Teil Mitteldeutschlands stehen würden.
Engels stand mit dieser Auffassung keineswegs allein. Zu auffällig war zumindest auf dem Papier das Mißverhältnis zwischen den beiderseitigen Kräften, zu auffällig auch die Mißgunst der Geographie. Die offizielle Kriegsstärke der österreichischen Armee, die trotz ihrer Niederlage gegen Frankreich im Italienischen Krieg von 1859 noch immer als eine der besten Europas galt, betrug beeindruckende 800000 Mann, die Heere der Königreiche Bayern, Württemberg, Sachsen, und der kleineren Verbündeten nicht mit gerechnet, während Preußen kaum 400000 Mann aufbringen konnte. Preußens Staatsgebiet war durch die feindlichen Länder Hessen und Hannover geteilt, was automatisch zu einem Dreifrontenkrieg zwang, während die süddeutschen Staaten und Österreich über ein zusammenhängendes Territorium verfügten, das durch einen Kranz von Mittelgebirgen geschützt war und in dem ihre Armeen den Vorteil der inneren Linie (der kürzeren Wege) genossen.
Die öffentliche Meinung in Deutschland war mehrheitlich der Auffassung, daß Preußen ganz bewußt einen deutschen Bürgerkrieg anzettele. Nach vier Jahren inneren Konfliktes, ausgelöst durch die Auseinandersetzung über die Heeresreform, war Preußens Image zudem generell das eines zerstrittenen, im Abstieg begriffenen Staates. Selbst die Berliner Börse spekulierte auf einen österreichischen Sieg. Die einzige – schwache – Trumpfkarte Preußens, schien es, war das Bündnis mit Italien, das Österreich ebenfalls zwang, seine Armee zu teilen. Andererseits war jedermann klar, daß der “Deutsche Krieg” in Deutschland entschieden würde.
Entsprechend konnte preußischerseits von Siegeszuversicht kaum die Rede sein. König Wilhelm I. wurde beim Einpacken der Familienpapiere beobachtet – nur für den Fall, daß die Hohenzollern erneut, wie 1806, gezwungen sein sollten, aus ihrer Hauptstadt zu fliehen. Sein Generaladjutant Bonin hatte offenbar kein rechtes Vertrauen in die Fähigkeiten seines obersten Kriegsherrn oder dessen Generalstabschefs, wenn er klagte: “Der König, im 70. Jahre, an der Spitze; Moltke ihm zur Seite: der Abgelebte. Was soll daraus werden?”
Die hohe Generalität hegte Zweifel am Feldzugsplan Helmuth von Moltkes, und auch Kriegsminister Albrecht von Roon war eher pessimistisch. Nur Moltke selbst strahlte die seinem Amte angemessene ruhige Zuversicht aus, und was immer Ministerpräsident Otto von Bismarck dachte – der den Krieg immerhin angefangen hatte – , wenn er Zweifel hatte, so ließ er es zumindest keinen merken.
Starke Nerven brauchte Bismarck nun ohnehin, war er doch durch seinen Kriegskurs nicht nur anerkanntermaßen der meistgehaßte Politiker Deutschlands – es war erst sechs Wochen her, daß der Student Ferdinand Cohen-Blind im Namen der “Freiheit” ein Attentat auf ihn verübt hatte und nach seinem Selbstmord im Gefängnis zum Märtyrer der Liberalen avanciert war. Bismarck wußte auch ganz genau, daß eine Niederlage in diesem Hasardspiel ihn zumindest das Amt und jede Reputation kosten würde. Deswegen war er auch entschlossen, in diesem Falle aus dem Krieg gar nicht erst zurückzukommen: er werde sich in diesem Fall der letzten Kavallerieattacke anschließen, romantisierte der Landwehrreitermajor Bismarck.
Bekanntlich überlebte der spätere Reichskanzler diesen angekündigten Eventualheldentod um beinahe 40 Jahre, und auch Wilhelm I. dürfte seine Familienpapiere nach einigen Wochen wieder ausgepackt haben. Es ist aber kein Fehler, sich einmal zu vergegenwärtigen, daß im Juni 1866 die Zeitgenossen einen österreichischen Sieg für beinahe so ausgemacht hielten wie wir heutzutage den – tatsächlich erfolgten – preußischen.
Der “Deutsche Krieg” von 1866 war ein Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland. Die Friedensordnung des Wiener Kongresses von 1815 hatte mit der Gründung des lose organisierten Deutschen Bundes im Herzen Europas bewußt ein politisches Vakuum hinterlassen. Die so genannte “deutsche Frage”, die uns fast bis ans Ende des vergangenen Jahrhunderts verfolgt hat, zentrierte sich in dem halben Jahrhundert nach 1815 primär entlang der Konfliktlinien multinational/national, föderalistisch/zentralistisch, monarchisch/republikanisch und nicht zuletzt großdeutsch-österreichisch/kleindeutsch-preußisch. Daß die multiethnische Habsburgermonarchie zur Vormacht eines deutschen Nationalstaates nicht taugte, war für viele Zeitgenossen keineswegs so offensichtlich, wie es nach der Entscheidung von 1866 aussah. Zudem erwies sich Preußen, die einzige Alternative, keineswegs als geeigneter Hoffnungsträger für die Nationalbewegung. Im Gefolge der Revolution von 1848 weigerte sich der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV., die Kaiserkrone des zu gründenden Nationalstaates aus den Händen bürgerlicher Politiker anzunehmen. Nach der Restaurationsdekade setzte die wiedererwachende Nationalbewegung ihre Hoffnung erneut auf Preußen, genauer gesagt auf Wilhelm I., der seit 1859 als Regent für seinen Bruder und ab 1861 als König regierte und nationalen wie liberalen Ideen wesentlich aufgeschlossener gegenüberzustehen schien.
Die nächste Enttäuschung folgte auf dem Fuße, als die “Neue Ära” nach wenigen Jahren in der schwersten Staatskrise der preußischen Geschichte zwischen 1806 und 1918, dem Verfassungskonflikt, zugrunde ging, an dessen Wurzel ein Streit über eine Heeresvermehrung lag, der sich aber ins Grundsätzliche steigerte und in eine wechselseitige Blockade von mehrheitlich liberalem Parlament und zunehmend konservativen Regierungen mündete. Preußen schien damit als Kristallisationspunkt eines künftigen deutschen Nationalstaates erneut auszuscheiden.
Die Staatskrise zu beenden wurde Bismarck berufen, der schließlich in einer unerwarteten Volte die innenpolitische Blockade überwand, indem er außenpolitisch auf die nationale Karte setzte und damit die seit 1815 gültige Friedensordnung Mitteleuropas binnen weniger Jahre revolutionierte. 1864 führte er Preußen im Bündnis mit Österreich und mit Unterstützung der deutschen Nationalbewegung in einen Krieg, der Dänemark die mehrheitlich deutschsprachigen Provinzen Schleswig und Holstein entriß, nur um gleich darauf die Nationalbewegung wieder zu düpieren – nicht ein neues, selbständiges Bundesmitglied wurden die Herzogtümer, sondern ein provisorisch direkt verwaltetes Unterpfand preußischer und österreichischer Machtpolitik. Mit dem unwahrscheinlichen Konstrukt eines österreichischen Gouverneurs in Holstein hatte Bismarck eine latente Krisensituation geschaffen, die sich praktisch nach Belieben für einen Bruch mit Österreich instrumentalisieren ließ. 1866 war es soweit. Mit der öffentlichen Forderung nach einem direkt gewählten deutschen Parlament provozierte Bismarck Österreich und scharte gleichzeitig erneut die Nationalbewegung hinter sich. Die Ablehnung des Vorschlages beantwortete Preußen mit dem Austritt aus dem Deutschen Bund, der zwangsläufig die Bundesexekution gegen das abtrünnige Mitglied bedeutete. Der Krieg um die Vorherrschaft in Deutschland, den Bismarck seit langem für unvermeidlich hielt, war damit bewußt vom Zaun gebrochen…
Dr. Dierk Walter