Als die Überreste der kaiserlichen Armee des Grafen Johann Tserclaes Tilly am Abend des 17. September 1631 aus ihren Stellungen ostwärts Breitenfeld nach Halle, Merseburg und Leipzig zurückströmten, war die politische Lage in Zentraleuropa innerhalb nur weniger Stunden vollkommen auf den Kopf gestellt. Die siegreichen Schweden unter Gustav II. Adolf hatten nicht nur das Schlachtfeld erobert, sondern auch das Tor nach Deutschland weit aufgestoßen. Nichts schien jetzt noch den König auf seinem triumphalen Zug zur Donau und weiter nach München aufhalten zu können.
Nach 13 siegreichen Jahren war der kaiserlichen Armee durch die Artillerie der Schweden bei Breitenfeld das Rückgrat gebrochen worden. Erstmals hatte Gustav Adolf 42 leichte, bewegliche Geschütze direkt in vorderster Linie postiert und damit seine Infanterie in der kritischen ersten Phase der Schlacht entscheidend unterstützen können. Auf je 1000 Mann waren bei den Schweden etwa drei bronzene Geschütze zum Einsatz gekommen, sogenannte Regimentsstücke, die mit nicht mehr als 140 Kilogramm gerade ein Drittel des bis dahin üblichen Gewichts ausmachten und notfalls auch von einem Pferd allein fortbewegt werden konnten. Dank einer ebenfalls neuartigen Kartuschenmunition feuerten sie mit einer mörderischen Frequenz von drei Schuß je Minute drei Pfund schwere Vollkugeln in die dichten Massen des Feindes. Tillys Truppen hatten dem nichts entgegenzusetzen gehabt. Ihre nach herkömmlicher Art in Batterien zusammengefaßten schweren Zwölf-Pfünder-Geschütze konnten während der Schlacht nur in Ausnahmefällen ihre Stellung wechseln. Bei plötzlichen Lageänderungen waren sie praktisch wertlos. In Breitenfeld hatte somit nicht nur eine Umkehr der politischen Kräfteverhältnisse stattgefunden, sondern auch eine Revolution der Taktik. Die Artillerie war zur Gefechtsfeldwaffe geworden und bestimmte das Kriegsbild für die nächsten zweieinhalb Jahrhunderte.
Dabei war die Technik damals schon uralt. Am Beginn des 14. Jahrhunderts waren in Europa erstmals Geschütze aufgetaucht. Im Jahr 1314 erwähnt eine Chronik aus Flandern Geschütze mit Pulver (bussen met kruyt), die von Gent nach England verschifft wurden. Bei der Belagerung von Metz im Jahr 1324 ist von Feldschlangen (serpentines) die Rede. Deutsche Truppen setzten bei der Belagerung der norditalienischen Stadt Cividale im Jahr 1331 Geschütze ein, die italienische Chronisten als scioppi oder vasi bezeichneten, häufig nannte man sie anfangs auch schlicht bois de fer (Holz aus Eisen) Ihre wohl erste Abbildung findet sich am Anfang einer Denkschrift, die Walter de Millemete um 1326 an König Eduard III. von England adressiert hatte. Das in der Bibliothek von Christ Church in Oxford verwahrte Schreiben enthält die Abbildung eines vasenförmigen Gefäßes, aus dessen Geschoßhals ein großer Pfeil hervorragt, der wohl auf ein Stadttor gerichtet ist. Das urtümliche Geschütz liegt auf einem tischähnlichen Gestell, das als provisorische Lafette dient, und wird von einem Mann in ritterlicher Rüstung mit einer Art Lunte gezündet.
Das als Treibladung dienende Schießpulver war in Europa schon einige Jahrzehnte früher bekanntgeworden. Der englische Philosoph und Naturforscher Roger Bacon erwähnte in seiner Abhandlung über geheime Verfahren („Epistola de Secretis Operibus Artis et Naturae“) aus dem Jahr 1249 eine neue Mixtur. Salpeter, Schwefel und Holzkohle entluden sich, so der Verfasser, sobald sie mit Feuer in Berührung kamen, mit einem lauten Knall und einem heftigen Blitz. In dem „Buch vom Feuer, um Feinde zu verbrennen“ („Liber ignum percomburandum hostes“), das ein Autor mit dem Pseudonym Marcus Graecus (Markus, der Grieche) vor dem Jahr 1270 verfaßt hat, wird eine Art Flammenwerfer beschrieben, der entstand, wenn man ein Pfund Schwefel, zwei Pfund Holzkohle und sechs Pfund Salpeter in einem Mörser mischte und dann in einem länglichen Gefäß zündete. Der Autor hatte schon den militärischen Nutzen seiner Erfindung vor Augen, als er vorschlug, den Brennstab mit einem zweiten pulvergefüllten Gefäß zu ummanteln, wodurch man eine Art Bombe erhielt, die er tonitrum nannte.
Die Forschung geht längst davon aus, daß Bacon sein Wissen aus dem Fernen Osten bezogen haben muß, vermutlich durch eine der päpstlichen Gesandtschaften an den Hof des mongolischen Khans in Karakorum. In China soll Schießpulver, so der britische Sinologe Joseph Needham, schon um die Mitte des 9. Jahrhunderts bekannt gewesen sein. Eine Abbildung aus dem 10. Jahrhundert auf dem Tunhuang-Banner zeigt eine Art Handflammenwerfer oder Feuerlanze, die Ähnlichkeit mit dem berühmten Griechischen Feuer hatte, das byzantinische Quellen beschrieben haben.
Als erste literarische Quelle erwähnt das chinesische Militärhandbuch „Wu Ching Tsung Yao“ aus dem Jahr 1044 das Schießpulver. Seine Verwendung in Geschützen ist allerdings erst für das Jahr 1281 durch Abbildungen und archäologische Befunde sicher bezeugt, als Chinas damaliger Herrscher Kubilai Khan bei seinem zweiten Versuch, in Japan zu landen, auch Artillerie einsetzte…
Dr. Klaus-Jürgen Bremm