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Die SS vor Gericht

Prozesse im Nachkriegsdeutschland

Die SS vor Gericht
Neben dem Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher fanden in Nürnberg zwischen November 1945 und April 1949 vor einem amerikanischen Militärgerichtshof zwölf weitere Prozesse statt. Angeklagt wurden in diesen Verfahren neben anderen 56 Mit-glieder von SS und Polizei.

Von allen zeitgenössischen Analysen, die sich bereits während des Zweiten Weltkriegs mit den zahllosen Verbrechen von Himmlers Schutzstaffeln befassten, war vermutlich Raphael Lemkins „Axis Rule in Occupied Europe“ die hellsichtigste und folgenreichste. Die 1944 im amerikanischen Exil entstandene Studie stellte Gestapo und SS als die Hauptträger einer ideologisch aufgeladenen Volkstumspolitik heraus: Ihr Ziel sei nichts Geringeres als die radikale bevölkerungspolitische Neuordnung der von Deutschland besetzten Territorien und die finale Auslöschung ganzer Bevölkerungsgruppen. Seine Befunde führten den jüdisch-polnischen Juristen zu weitreichenden Schlussfolgerungen. Da die deutschen Verbrechen im Osten Europas keineswegs „sporadische Akte der Feindseligkeit“ seien, sondern auf einem wohldurchdachten „genozidalen Plan“ beruhten, schlug er vor, die Bestimmungen des Haager Kriegsvölkerrechts entsprechend zu modifizieren: Typische nationalsozialistische Terrororganisationen wie Gestapo und SS seien als „kriminelle Vereinigungen“ sui generis anzusehen. Bereits die bloße Mitgliedschaft müsse daher als ein Verstoß gegen das Völkerrecht und die Gesetze der Menschlichkeit gewertet werden.

Als sich gegen Kriegsende ein Strafprozess gegen die Spitzenfunktionäre des NS-Regimes abzeichnete, griffen die Beamten des US-Kriegsministeriums dafür auch auf Lemkins Formel von der criminal gang zurück. Diese fand zunächst Eingang in das Londoner Statut für das Internationale Militärtribunal (IMT) und bildete später einen von insgesamt vier Anklagepunkten gegen die 22 sogenannten Hauptkriegsverbrecher, die im Oktober 1945 in Nürnberg vor Gericht gestellt wurden.

Im IMT-Verfahren wie in den anschließenden amerikanischen Nachfolgeprozessen nahm die Frage nach dem spezifischen Beitrag der Himmler’schen „Weltanschauungselite“ (so der Historiker Michael Wildt) an den Mordaktionen eine zentrale Stellung ein. Überwiegend aus jüngeren Akademikern mit gehobenem bürgerlichem Hintergrund bestehend, hatten sich deren Mitglieder bereits in den 20er und 30er Jahren einem völkischen Rassebiologismus verschrieben. Zu den wichtigsten Merkmalen dieser Gruppe zählten ein elitäres Sonderbewusstsein, das Führerprinzip und die unbedingte Gewaltbereitschaft. Getragen vom Ideal der „kämpfenden Verwaltung“, war zudem mit dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) ein völlig neuer Institutionentypus entstanden, der sich in seiner Struktur und seiner spezifischen Aufgabe – der „Erhaltung des deutschen Volkskörpers“ – grundlegend von traditionellen staatlichen Bürokratien unterschied.

Schon 1942 hatte das „Office for Strategic Services“ (OSS) in Washington eine Reihe renommierter deutscher Wissenschaftler angeheuert, die im Auftrag des US-Geheimdiensts zum NS-Regime forschen sollten. Nach dem Krieg stellte sich aber schnell heraus, dass zwischen theoretischer Expertise und deren praktischer Anwendung ein gravierender Unterschied bestand. So fiel es den Besatzungsbehörden nach 1945 zunächst recht schwer, die sozialwissenschaftlichen Analysen für die Strafverfolgung einsetzbar zu machen. Da man beabsichtigte, neben dem RSHA-Chef Ernst Kaltenbrunner auch das Führungspersonal der Einsatzgruppen, des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts (WVHA), des Rasse- und Siedlungshauptamts (RuSHA) sowie einzelne SS-Ärzte vor Gericht zu stellen, war es notwendig, sich in relativ kurzer Zeit eine Übersicht über Himmlers Imperium verschaffen.

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Teilweise bedienten sich die Amerikaner dabei auch fragwürdiger Mittel. So ließ man etwa den Untersuchungshäftling Otto Ohlendorf fast zwei Jahre darüber im Unklaren, dass ihm selbst eine Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit drohte. Laut amerikanischem Rechtsverständnis stellte dies einen klaren Verstoß gegen den Fünften Zusatzartikel der US-Verfassung dar, in dem die Rechte eines Angeklagten festgehalten sind. Eloquenter und in jeder Beziehung flexibler als der grobschlächtige Kaltenbrunner, suchte der promovierte Jurist und frühere SS-Brigadeführer seine Situation dadurch zu verbessern, dass er die Anklagebehörde umfassend über das nationalsozialistische Mordprogramm informierte. Auch seinen eigenen Tatbeitrag – die Ermordung von knapp 100000 sowjetischen Juden – verschwieg Ohlendorf nicht…

Literatur: Annette Weinke, Die Nürnberger Prozesse. München 2006. Annette Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949 –1969 oder eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg. Paderborn / München / Wien / Zürich 2002.

Dr. Annette Weinke

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