Als sich Europa selbstgefällig im Licht der Aufklärung zu sonnen begann, hatte das Osmanische Reich – einst der Schrecken der Christenheit und immer noch ein Südosteuropa und Vorderasien zusammenspannender Territorialkoloß – seine goldene Ära bereits hinter sich. Vorbei waren die Zeiten, da westliche Herrscher und Staatsrechtler mit unverhohlenem „Absolutismus-Neid“ nach Konstantinopel blickten, wo ihrer Meinung nach Sultan und Großwesir in echt orientalischer Manier, also wirklich despotisch, schalten und walten konnten. Europas Türken-Bild verkehrte sich rasch ins Gegenteil: Instabilität und zunehmende Rückständigkeit verwandelten den gefürchteten „Erbfeind des christlichen Namens“ nach und nach in den „kranken Mann am Bosporus“.
Die bittere Niederlage vor Wien 1683 und der erfolgreiche Gegenschlag der österreichischen Habsburger hatten die europäischen Grenzen des Osmanischen Reichs Hunderte Kilometer nach Süden in die Tiefen des Balkans zurückgedrängt. Der Siegeszug der kaiserlichen Waffen schien die „Lebensunfähigkeit“ des türkischen Imperiums zu beweisen, die unselige „Orientalische Frage“ war aufgeworfen. Sie sollte die europäischen Staatskanzleien bis zum Untergang des Halbmonds im Ersten Weltkrieg und seiner fast vollständigen Vertreibung aus Europa beschäftigen.
Daß das Osmanische Reich spätestens im 18. Jahrhundert als modernisierungsfeindlicher Nachzügler galt, hatte es auch seiner Selbstausgrenzung aus dem europäischen Staatensystem zuzuschreiben. Im 16. Jahrhundert mag es noch Ausdruck der Überlegenheit über die „Giauren“ (Ungläubigen) gewesen sein, wenn der Großherr keine dauerhaften Vertretungen im Ausland unterhielt und die sich am Goldenen Horn als Bittsteller drängenden westlichen Diplomaten einem erniedrigenden Zeremoniell unterwarf. Im Lauf der Zeit aber führte dieser Isolationismus zu einem katastrophalen Informa-tionsnotstand. Osmanische Gesandtschaften machten sich nur in Ausnahmefällen auf in den Westen, wo sie von der Bevölkerung wie exotisches Zoogetier begafft wurden.
Der Absturz vom terror Christianorum zum vermeintlichen „Entwicklungsland“, über das sich das Abendland erhaben dünkte, bereitete den Boden für die im Barock und Rokoko so populäre Verniedlichung des Orientalen in den Turquerie-Moden. Immer weniger assoziierte man die Osmanen mit den Kollateralschäden ihres Expansionismus, den Greuel-taten ihrer „Renner und Brenner“ etwa, sondern mit Tulpen, Kaffee und schlüpfrigen Haremshistörchen wie aus 1001 Nacht. Ernstzunehmender „Kulturtransfer“ zwischen Orient und Okzident schien jenseits des Kuriosen nur mehr in östlicher Richtung möglich zu sein und bestand von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an zunehmend in einer uns wohlvertrauten Form westlicher Entwicklungshilfe: in der Entsendung von Militärberatern. Auch Helmuth von Moltke (1800 –1891), der spätere Chef des preußischen Generalstabs, wirkte in den 1830er Jahren als Instrukteur im Osmanischen Reich.
Ehe derart offene Militärhilfe zur Regel wurde, waren es meist Renegaten aus dem christlichen Europa gewesen, die freiwillig zum Islam übertraten, oft steile Karrieren machten und dafür westliches Know-how, oder was die Hohe Pforte dafür hielt, vermittelten. Als einer der schillerndsten unter ihnen darf, selbst nach den Maßstäben des an bizarren Gestalten überreichen 18. Jahrhunderts, Claude-Alexandre Comte de Bonneval gelten. Wahrlich keine bloße „Randfigur der Geschichte“, denn mindestens ebenso, wie Bonneval den Klatsch und Tratsch der Salons befruchtete, beschäftigte er die hohe Politik seiner Zeit. Seine 1736 erstmals erschienenen, angeblichen „Memoiren“, ein phantasievoller Lebensroman mit Schwerpunkt auf erotischen Abenteuern, wurden zum oft aufgelegten Verkaufsschlager. Bonneval selbst strafte das Machwerk mit Verachtung: Hätte er wirklich Memoiren veröffentlicht, so prahlte er sehr mit Recht, wäre ihr Inhalt ohne Zweifel viel sensationeller ausgefallen!
Claude-Alexandre Comte de Bonneval wurde am 14. Juli 1675 auf Schloß Bonneval im Limousin geboren, wo Besuchern noch heute das sogenannte Pascha-Zimmer gezeigt wird. In jungen Jahren trat der Sproß einer mit dem Königshaus verwandten altadligen Familie in die französische Kriegsmarine ein, wechselte nach einem Konflikt mit dem Minister – solche Zerwürfnisse sollten seinen Lebensweg wie Meilensteine säumen – in die Armee. Nach dem Ausbruch des Spanischen Erbfolgekrieges 1701 kämpfte Bonneval in Oberitalien gegen die Kaiserlichen. Ein Streit mit dem Kriegsminister über seine ungeordnete Geldwirtschaft endete 1705 mit einem Eklat: In einem Schreiben voller Aristokratenstolz beschwor er die Bürgerkriegszeiten der Fronde herauf, die Ludwig XIV. in seiner Jugend traumatisiert hatten, stellte den alten Adel Frankreichs dem Königtum fast gleichberechtigt zur Seite und drohte mit seinem Übertritt in kaiserliche Dienste. Der Sonnenkönig ließ nicht mit sich spaßen, Bonneval ebensowenig. Er lief tatsächlich zum Feind über und erhielt dort sofort Generalsrang. In Paris wurde er dafür in effigie hingerichtet: Der Henker nagelte sein Bild an den Galgen.
In kaiserlichen Diensten finden wir Bonneval zunächst in seinem alten Einsatzgebiet Italien, von 1710 an im Gefolge des Prinzen Eugen von Savoyen. Der Türkenkrieg von 1716 bis 1718, mit dem Eugen seine militärische Karriere und zugleich Österreichs „Heldenzeitalter“ krönte, gab auch Bonneval Gelegenheit zu neuer Bewährung. Selbst die übliche winterliche Feldzugspause 1716/17 ließ der im Lauf seiner Karriere elfmal verwundete Heros nicht ungenützt verstreichen. Die seit längerem betriebene Rehabilitierung in Frankreich war endlich möglich. Zur feierlichen Zeremonie reiste Bonneval nach Paris und heiratete bei dieser Gelegenheit auch gleich ein Fräulein aus der Hocharistokratie, Judith-Charlotte de Gontaut-Biron. Bereits zehn Tage nach der Hochzeit verließ er die Angetraute, um sie nie wiederzusehen. Bald witzelte man über die Scheinehe, die junge Frau aber schrieb dem Kriegshelden über Jahrzehnte ergreifende Liebesbriefe, die später zumindest Literaten zu Mitleid und schriftstellerischer Verarbeitung rührten.
Bonneval galt neben Prinz Eugen als einer der tüchtigsten Generäle des Kaisers, war wie sein Mentor eifriger Förderer der Literatur und schönen Künste, korrespondierte artig mit Leibniz und Fénelon. Als Salonlöwe hatte er dem wenig attraktiven Savoyer fraglos einiges voraus. Er hielt in Wien gastliches Haus, war ein legendär stattlicher Esser und Trinker, besuchte lieber übelbeleumundete Häuser als die Heilige Messe und trug statt der zeitüblichen Allongeperücke sein natürliches Haar gerne im revolutionären Kurzschnitt.
Das enge Verhältnis mit Eugen von Savoyen kühlte mit der Zeit jedoch merklich ab. Der ungestüme Franzose wurde bei der Besetzung einträglicher Posten mehrfach übergangen und revanchierte sich dafür mit Spottgedichten auf Eugen und seine Kreaturen in der Militärverwaltung. 1724 übersiedelte Bonneval nach Brüssel in die Österreichischen Niederlande. Schon bald geriet er aber auch hier in einen ebenso heftigen wie entbehrlichen Streit mit dem Stellvertreter Eugens als Generalstatthalter in Belgien. Die publizistisch durch halb Europa getragene Affäre war für das kaiserliche Ansehen ein peinlicher Schlag ins Gesicht. Bonneval wurde zur Rechtfertigung nach Wien befohlen. Als er im Dezember 1724 gichtgeplagt in der Kaiserstadt eintraf, war hier bereits das Kriegsgericht zusammengetreten. Es verurteilte Bonneval (ohne Anhörung) zum Tod durch das Schwert. Selbst Kaiser Karl VI. erschrak ob der Schärfe des Urteils, das nach Kabinettsjustiz roch, und begnadigte den Grafen im Januar 1725 zu einjähriger Festungshaft auf dem Spielberg zu Brünn in Mähren.
Nach Verbüßung der Strafe übersiedelte Bonneval nach Venedig. Hier traf ihn 1728 niemand Geringerer als sein Landsmann Montesquieu, der uns den abgehalfterten General in seinen Reisenotizen als hochinteressanten Gesprächspartner und trickreichen Erfinder von Brunnenbohrmaschinen, Flußbettbaggern und ähnlichem vorführt: „Kein Tag war sein Kopf ohne Projekte“.
Der erhoffte Wechsel in französische oder spanische Dienste zerschlug sich. Plötzlich, im Sommer 1729, finden wir Bonneval in Sarajevo auf osmanischem Territorium. Vorerst durfte er nicht nach Konstantinopel weiterreisen. Weder die Pforte noch der französische Botschafter beim Sultan, den Bonneval von Bosnien aus mit verstiegenen antiösterreichischen Plänen bestürmte, wollten Wien damals provozieren. Um der drohenden Auslieferung an die Kaiserlichen zu entgehen, trat er schließlich zum Islam über und nahm als Verbeugung vor dem Sultan dessen Namen an: Ahmed.
Selbstverständlich war es eine Konversion ohne innere Überzeugung. Unsere Gewährsmänner in dieser Gewissenssache sind prominent: Voltaire und Casanova. Letzterem gestand „Ahmed“ später, er glaube an den Koran, wie er einst an das Evangelium geglaubt habe. Und von Voltaire wissen wir, daß den Renegaten bloß die Hoffnung antrieb, an der Spitze osmanischer Truppen „dem Prinzen Eugen eins übers Ohr zu schlagen“. Das perplexe Europa ironisierte derweil die Qualen, die dem Bonvivant der obligate Verzicht auf Alkohol, aber auch die Beschneidung bereitet haben mußten…
Dr. Michael Hochedlinger